Skizze eines wünschenswerten Europas
Ein Europa zur Wohlstandsverteidigung?
Während wir über Eurorettung, Fiskal- und Bankenunion diskutieren, drängt sich immer wieder eine Frage in den Vordergrund: Warum machen wir das ganze eigentlich? Auch wenn die Intuition – wir tun das richtige damit! – einfach ist, ist es sehr schwierig, darauf eine plausible Antwort zu geben.
Europa ist keine Nation. Europa ist keine Gesellschaft. Europa hat keine eigene, spezifische Mentalität. Europa soll eine gemeinsame Kultur haben, sagt man – aber sind die Unterschiede innerhalb der EU nicht mindestens genauso groß oder klein wie die Unterschiede zwischen der EU und den USA etwa oder Kanada? Außerdem zerfällt diese „europäische Kultur“ in 23 verschiedene Sprachen – gemeinsame, demokratische Entscheidungen zu treffen ist also schlicht unmöglich, so lange sich nicht aus den 27 verschiedenen Gesellschaften eine „europäische Gesellschaft“ herausgebildet hat. (Siehe dazu auch meinen Blogeintrag „Die falsche Idee von Europa“.)
Die Begründung, die sich nach und nach in unser Allgemeingut eingeschlichen hat, lautet darauf, dass wir als einzelne Staaten zu schwach und unbedeutend sind, um im globalen Wettbewerb gegen große und größer werdende Spieler wie USA, China, Russland, Indien, Brasilien zu bestehen. Was bedeutet dies zu Ende gedacht? Wir wollen unseren Wohlstand gegen andere auf dieser Erde verteidigen. Wir sind zwar die reichste Region dieser Erde, aber wir wollen nicht, dass andere auch reich werden! Es geht nicht darum, dass wir wirklich substanziell ärmer werden könnten, bloß weil wir als einzelne Länder auftreten. Wir fürchten nur, nicht noch reicher werden zu können, uns wirtschaftlich nicht noch mehr durchzusetzen als wir es bisher sowieso schon getan haben. Es geht darum, unsere Vormachtstellung aufrecht zu halten.
Wir kapseln unseren Wohlstand ab und bilden eine gemeinsame Front gegen Angriffe auf unseren Wohlstand – zum Beispiel durch Flüchtlinge aus Afrika. Wenn wir wirklich dafür ein geeintes Europa brauchen, um uns mit Egoismus zu behaupten, verraten wir alle unsere so viel gelobten „europäischen Ideale“, mit denen die Mischung humanistisch-aufklärerisch-christlicher Vorstellungen oft bezeichnet wird.
Wir brauchen kein Europa, das unsere reichen Staaten bewahrt vor der unbarmherzig fortschreitenden Gerechtigkeit, die immer mehr anderen Regionen auf dieser Welt Wohlstand und damit auch Macht bringt. Ein solches Europa ist unsere Mühe nicht wert.
Europa braucht eine neue Begründung
Das Streben nach Macht ist ja per se nichts schlechtes – es kommt darauf an, wofür diese Macht eingesetzt wird. Deshalb muss der Sinn Europas neu definiert werden: Ja, wir wollen Macht – die wir aber so einsetzen sollten, wie es den europäischen Idealen gebührt: Die EU könnte ein Bündnis hoch entwickelter Staaten sein, die versuchen, durch ihre geballte Stärke auch anderen Staaten, die es nicht von alleine schaffen, auf ein solch hohes Wohlstandsniveau zu helfen! Die EU muss ihre Macht verteidigen im Wettstreit mit den anderen Großmächten – um die Welt gerechter zu machen als sie es derzeit ist, um schlimme Armut zu lindern und Kriege zu verhindern! Unser Wohlstand ist groß genug – nur warum haben wir Deutsche ihn verdient, aber Äthiopier nicht? Wir sind in der moralischen Verantwortung, nicht an uns, sondern den armen Rest der Welt zu denken.
Dafür lohnt es sich, dass sich so viele verschiedenartige Staaten zusammentun und sich an gemeinsamer Politik versuchen.
Gemeinsame Politik nach außen
Genau jenes Politikfeld, das beinahe komplett vergessen wurde, ist das mit Abstand wichtigste eines Europas, für das es sich zu engagieren lohnt: die Außenpolitik.
Europa braucht, um die Aufgabe zu erfüllen, die ihm einen Sinn gibt, eine gemeinsame Entwicklungspolitik. Wir müssen alles uns Mögliche tun, um den Ärmsten dieser Welt zu helfen – dafür gibt es keinen Masterplan, jedes Land, jede Region hat seine eigenen Probleme. Deshalb ist es wichtig, kleinteilige Lösungen zu entwerfen und dann auch umzusetzen – dafür braucht es keine Unmengen an Geld, sondern in erster Linie eine effiziente Verwaltung, die untersucht, welche Region wie gefördert werden könnte, und diese Förderung dann auch durchführt und überwacht.
Eine Verantwortung, die vor allem wir in Europa durch unser Handeln in den letzten hundertfünfzig Jahren auf uns geladen haben, besteht in der Verhinderung des Klimawandels: Wir waren es, die die Treibhausgase ausgestoßen haben, die jetzt für den Klimawandel sorgen. Wir haben also die Pflicht, sowohl in Europa selbst als auch global für eine Reduktion der schädlichen Emissionen zu sorgen!
Eine gemeinsame Außenpolitik braucht auch eine gemeinsame Armee – die Möglichkeit zur Verteidigung der EU ist bei einer Zusammenlegung der nationalen Streitkräfte viel einfacher und effizienter zu gewährleisten. Mit einer gemeinsamen, bunt durchmischten, nicht in einzelne nationale Gruppen auftrennbaren Armee erfüllt man außerdem auch den ersten und ursprünglichen Sinn Europas: Ein Krieg zwischen europäischen Staaten ist damit schlicht unmöglich.
Diese Armee dient dem oben beschriebenen Zweck: Kriege zu verhindern und den Frieden zu sichern. Aber auch die Sicherung von bestimmten Gebieten oder z. B. Meeresstraßen zur Gewährleistung der globalen Ordnung kann ein legitimer Einsatzzweck sein, wenn dadurch verhindert wird, dass es Menschen durch kriminelle Handlungen schlechter geht.
Um das Ziel einer gerechteren Welt durchzusetzen sollte die EU auch einen gemeinsamen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat innehaben – dieser Sitz ist dem Friedens- und Gerechtigkeitsziel der EU verpflichtet und nicht den nationalen Interessen Frankreichs oder Großbritanniens.
Alles das sollte zeigen, dass es hauptsächlich eines braucht für Europa: ein gemeinsames Außenministerium. Zwar gibt es seit 2009 das Amt des „Hohen Vertreters der Außen- und Sicherheitspolitik“, doch fehlt dem Posten jegliche Autorität, wie sie andere europäische Institutionen wie etwa die Europäische Zentralbank besitzen. Lasst uns deshalb die nationalen Außenministerien abschaffen, ein echtes europäisches Außenministerium errichten und europäische Botschaften bauen, sodass wir unsere Ziele des Friedens und der Gerechtigkeit gemeinsam erreichen können.
Gemeinsame Politik nach innen
Europa kann seine Ziele aber nicht nur nach außen verwirklichen, sondern sollte das auch seinen eigenen Bürgern gegenüber. Was wir dafür sicher nicht brauchen, ist der Euro. Er kann nicht funktionieren ohne eine gemeinsame Fiskal- und Wirtschaftspolitik, er bräuchte ein Transfersystem – das alles ist aber aus demokratischer Sicht nicht wünschenswert, da eine Demokratie eine gemeinsame Gesellschaft voraussetzt, die es aber in Europa jetzt und auch in absehbarer Zeit nicht geben wird. Ganz im Gegenteil, der Euro sät Unfrieden und treibt einen Keil zwischen die reicheren und die ärmeren Länder Europas. (Nochmal der Hinweis auf meinen Blogeintrag „Die falsche Idee von Europa“.)
Der Frieden, den Europa in den letzten sechzig Jahren gebracht hat, scheint ewig. Doch gerade die durch die Eurokrise aufgebrachten Bürger in den betroffenen Länder zeigen, dass Frieden immer fragil ist. Deshalb sollten wir, wie oben beschrieben, unsere Armeen zusammenlegen und so bewaffnete Auseinandersetzungen schon in ihren Kernvoraussetzungen unmöglich machen.
Das größte Gut, das Europa seinen Bürgern neben dem Frieden bieten kann, ist die Freizügigkeit. Das Schengen-Abkommen ist der Höhepunkt Europas, es ermöglicht Bürgern, ihre Freiheit wirklich zu leben. Es muss also darum gehen, die gemeinsame Zone zu schützen und nach und nach auszuweiten, um das Glücksgefühl, überall in Europa willkommen zu sein, zu bewahren und mehr Bürgern zu ermöglichen.
Europa kann auch Rahmen setzen, um den grenzüberschreitenden Handel zu erleichtern – allerdings sollten wir uns bewusst sein, dass auf unserem Niveau von freierem Handel keine großen Wohlstandsgewinne mehr zu erwarten sind, wohingegen die Verteilungswirkungen enorm sind. Ebenso sollte Europa den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen und nationale Kapitalschranken einführen, die im Fall turbulenter Ereignisse (wie wir sie etwa mit der Eurokrise erleben) übermäßige Kapital-Outflows aus Ländern verhindern können. Die Stabilität, die dadurch gewonnen wird, ist weit mehr wert als der geringfügige Wohlstandsverlust, der dadurch vielleicht entstehen kann.
Europa kann sich auch zusammentun, um die großen Herausforderungen der nächsten Zeit anzugehen: Eine gemeinsame Energieerzeugung und kollektiv getragene Energienetze führen zu günstigen Möglichkeiten, die Energiewende zu bestreiten. Maßvolle Migration kann helfen, demographische Ungleichgewichte in bestimmten Staaten zu beheben.
Dabei müssen wir uns aber immer bewusst sein, dass wirklich demokratische Entscheidungen zur Zeit nur auf der Ebene der Nationalstaaten gefällt werden können, und dass wir dieses Gut der Demokratie nicht für geringfügige Wohlstandsgewinne aufs Spiel setzen sollten.
Es lohnt sich also auf jeden Fall, für Europa zu kämpfen. Nur sollte dieses Europa ganz anders aussehen, als das, das wir gerade versuchen zu retten.
Vielen Dank an Teresa Degelmann für Ideen und Korrektur :)