Wohlergehen und gerechte Verteilung
Schon seit längerem schreibe ich an ein paar Ausführungen, die für mich persönlich begründen, wie ich bestimmte Politik im Allgemeinen und politische und gesellschaftliche Entscheidungen und Diskurse im Konkreten bewerte. Würde mich natürlich sehr freuen, wenn es die eine oder den anderen auch zum Nachdenken und Diskutieren anregen könnte ;)
Nachdem das ganze etwas länger ist, gibt’s den Text auch als PDF oder als ePub.
Wohlergehen und gerechte Verteilung
Diese Ausführungen sollen umreißen, welches Ziel ein Staat anstreben und welchen Prinzipien der Verteilung er folgen sollte.
Erste Prämisse: Wohlergehen
Jeder Mensch handelt immer so, wie es ihm nach eigener Abschätzung am besten geht. Der prinzipiell beste Staat ist deshalb derjenige, mit dessen Existenz das größte Wohlergehen des Einzelnen einhergeht.
„Besser-Gehen“ als Handlungsmaxime jedes Menschen
Jeder Mensch handelt und entscheidet immer so, dass es ihm nach seiner eigenen, in diesem Moment getroffenen Einschätzung am besten geht. Egal, ob Entscheidungen bewusst als Überlegungen getroffen werden oder intuitiv fallen – immer wird die Handlungsoption gewählt, von der sich die handelnde Person verspricht, dass es ihr damit im Vergleich zu allen möglichen Alternativen am besten geht.
Diese Maxime des „Besser-Gehens“ gilt für jeden Zeitpunkt und Zeithorizont von Entscheidungen: Wenn wir überlegen, wofür wir Geld ausgeben sollen, entscheiden wir uns danach, mit welcher Verwendung des Geldes es uns am besten geht. Wenn wir sehr gegenwartsorientiert sind, wählen wir die Option, mit der es uns jetzt im Moment am besten geht, wenn wir weiter in die Zukunft schauen, beziehen wir auch mit ins Kalkül ein, wie wir uns in einigen Tagen, Wochen, Jahren vermutlich fühlen mit der jeweiligen Handlungsoption.
Unabhängig davon, welchen Zeithorizont wir bei unseren Entscheidungen betrachten und welchen Einflüssen unser Denken und Fühlen ausgesetzt ist, ist das „Besser-Gehen“ das einzige Kriterium, nach dem wir verschiedene Handlungsoptionen bewerten und auswählen.
Besser-Gehen, Glück und Zufriedenheit
Dem Besser-Gehen als Handlungsmaxime ähnlich sind Konzepte von Glück oder Zufriedenheit, denen zufolge Menschen in ihrem Leben nach diesen Zielen streben. Es scheint allerdings wenig plausibel, dass Menschen bei all ihren Handlungen solch abstrakte Ziele wie ihr Glück oder ihre Zufriedenheit berücksichtigen: Bei großen, überlegten Entscheidungen wie der Berufswahl mag dies oft der Fall sein; kleine Entscheidungen à la „Latte macchiato oder Cappuccino?“ können dadurch nicht erklärt werden. Aber auch plausible größere Handlungen lassen sich durch Glücksstreben nicht immer nachvollziehen: Angenommen, jemand findet einen Koffer voller Geld; diese Summe Geld würde Anschaffungen ermöglichen, die sicher glücksfördernd wären. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Person den Koffer aufs Fundamt bringt, sehr hoch, vielleicht, weil sie moralische Bedenken hat. Diese Handlung ließe sich durch Glücksstreben nur schwierig erklären; die Logik des Besser-Gehens führt die Handlung einfach darauf zurück, dass die Person vermutet, dass ihre Gewissensbisse letztlich größer wären als die Freude an den Dingen, die sie mit dem Geld kaufen könnte, kurz: dass es ihr mit dem Melden des Kofferfundes besser geht als mit dem Behalten.
Glück als Lebensziel ist allerdings ganz einfach mit dem Konzept des Besser-Gehens vereinbar, da glücklich zu sein nichts anderes bedeutet, als dass es mir gut geht; wie glücklich ich bin, hat also die gleiche Aussage wie die, wie gut es mir geht. Wird „Glück“ allerdings nicht als Beschreibung eines Gefühlzustandes, sondern als abstrakteres Konzept verwendet, ergeben sich Nachteile gegenüber der Logik des Besser-Gehens, die deshalb hier vertreten wird: Wenn wir bewusst nach Glück streben, wollen wir damit erreichen, dass es uns gut geht; hier überschneiden sich die Logik des Glücksstrebens und des Besser-Gehens. Wenn wir aber augenscheinlich nicht nach Glück in irgendeinem abstrakten Sinne streben, nehmen wir trotzdem – egal, ob bewusst oder unbewusst – die Option, von der wir glauben, dass es uns mit ihr am besten geht.
Freiheit, Reichtum, Gesundheit – Mittel zum Zweck
Auch alle anderen, oft als letztgültige Ziele von Menschen bezeichnete Konzepte sind nichts anderes als Mittel zum Zweck des Besser-Gehens. Menschen entscheiden sich nicht für Freiheit oder Gesundheit als Ziel ihrer Handlungen, weil mehr Freiheit oder eine bessere Gesundheit einen eigenen Wert besitzen, sondern weil sie sich von größeren Freiheiten oder einem gesünderen Körper versprechen, dass sie dazu führen, dass es ihnen in einer ansonsten gleichen Lebenssituation damit besser geht. Menschen streben nach Vermögen, Anerkennung, Freiheit, Macht, bestimmten Jobs oder Wohnungen aus immer dem gleichen Grund: weil sie glauben, dass es ihnen besser geht, wenn sie sich auf das Ziel zubewegen oder es erreichen.
Wenn Menschen verschiedene mögliche Zustände ihrer Welt und ihres Lebens beurteilen könnten, würden sie letztlich den Zustand wählen, in dem es ihnen am besten geht. Alle Dimensionen, in denen sich Menschen Ziele setzen, weil sie glauben, dass sie beeinflussen, wie gut es ihnen geht, können deshalb nicht getrennt voneinander betrachtet werden: Nehmen wir an, ein Mensch müsste auswählen aus verschiedenen Zuständen, die sich in seiner Ausstattung an verschiedenen Gütern, z. B. Vermögen und Anerkennung, unterscheiden. Eine Wahl könnte nur getroffen werden, wenn er seine Ausstattung in beiden Dimensionen kennt, weil er nicht beurteilen könnte, ob ein Zustand besser oder schlechter ist, wenn nur die Ausstattung mit Vermögen oder nur die mit Anerkennung bekannt wäre. Letztendlich trifft er eine Bewertung des jeweiligen Zustandes der Welt und des Lebens ausschließlich danach, wie gut es ihm geht. Das bedeutet auch, dass nicht die Ausstattung mit einzelnen Gütern bedeutsam ist, sondern die Konfiguration aller Güter, die beeinflussen, wie glücklich ein Mensch damit ist.
Wohlergehen des Einzelnen als Ziel des Staates
Was folgt daraus für den Staat? Welches Ziel sollte ein Staat mit seiner Politik verfolgen? Was würde den „besten“ Staat auszeichnen? Der aus Sicht eines seiner Bürger beste Staat ist derjenige, den der Bürger hypothetisch für sich auswählen würde, wenn er wählen könnte unter allen möglichen und denkbaren Staaten, also Formen und Ausgestaltungen des Staates, in dem er lebt. Wenn der Mensch immer die Handlungsoption nimmt, mit der es ihm am besten geht, würde er auch in diesem Fall den Staat bevorzugen, mit dem das größtmögliche Wohlergehen für ihn einhergeht. Der beste Staat ist also für jeden Einzelnen derjenige, mit dem es ihm am besten geht.
Natürlich würde jeder Bürger dieses Staates eine andere Ausgestaltung bevorzugen – nämlich die, die genau für ihn das größte Wohlergehen bedeuten würde. Der für alle Bürger beste Staat muss also der sein, der dem für den jeweiligen Einzelnen besten Staat so nahe wie möglich kommt; auf der höchsten Abstraktionsebene aller Ziele eines Staates muss also das Prinzip des größtmöglichen Wohlergehens jedes Einzelnen stehen.
Rahmen für die Umsetzung des Ziels größtmöglichen Wohlergehens
Das prinzipielle Ziel größtmöglichen Wohlergehens jedes Einzelnen enthält dabei keinerlei Aussage über die Ausgestaltung des Staates, also mit welchen konkreten politischen Institutionen und Handlungen dieses Ziel dann tatsächlich erreicht werden kann.
Ein Staat, in dem es jedem Einzelnen am besten geht, ist sicher nicht totalitär oder absolut: Freiheit und das Gefühl einer gewissen Selbstbestimmung sind unabdingbare Grundbedingungen für ein glückliches Leben, sodass ein Staat, der das Wohlergehen seiner Bürger zum Ziel hat, auf jeden Fall eine freiheitliche Ordnung besitzt. Ebenso sind eine konstitutionelle Demokratie, Schutz von Menschen- und Bürgerrechten und ein Konzept individueller Verantwortung empirisch als unabdingbar erwiesen für einen modernen Staat mit dieser Zielsetzung.
Ein solcher Staat erkennt außerdem unbestreitbar an, dass Menschen auf verschiedene Art und Weise glücklich werden können und dass sie zu einem großen Teil selbst am besten wissen, was ihrem Wohlergehen zuträglich ist. Dies wiederum stärkt den Wert der Freiheit in einem solchen Staat. Staatliche Einschränkungen dieser Freiheit zur Steigerung des Glücks, wie sie bei Entscheidungen zu Süchten wie dem Rauchen scheinbar geboten sind, müssen vorsichtig vorgenommen werden – ansonsten besteht die Gefahr, dass die Minderung des Wohlergehens durch den Freiheitsverlust größer ist als der Zugewinn an Wohlergehen. Allerdings ist der beste Staat sicher auch kein „Nachtwächterstaat“, der außer der Verteidigung der inneren Ordnung und des Staates gegen äußere Feinde keinerlei Funktionen übernimmt, weil der Mensch für sein Wohlergehen nicht nur Freiheit, sondern auch Sicherheit in sozialen und wirtschaftlichen Belangen benötigt.
Auch das Konzept einer „Matrix“, bei der Glücksempfinden durch eine Scheinwirklichkeit hergestellt werden könnte, ist nicht vereinbar mit einem tatsächlich glücksfördernden Staat: Es ist immer zu befürchten, dass der Schwindel entdeckt werden könnte, sodass der potentielle Schaden durch eine Aufdeckung nie aufgewogen werden kann von möglichen Steigerungen des Wohlergehens durch diese Scheinwirklichkeit.
Zweite Prämisse: Gerechtigkeit
Viele Güter, die zu einem gesteigerten Wohlergehen beitragen können, sind nur begrenzt vorhanden. Werden die so entstehenden Verteilungen von Staat und Gesellschaft beeinflusst, müssen diese Beeinflussungen gerecht sein.
Maximalität unter der Bedingung begrenzt vorhandener Güter
Das Ziel des größtmöglichen Wohlergehens für jeden Einzelnen ist nicht gleichbedeutend mit maximalem, also dem größten überhaupt denkbaren Wohlergehen. Wenn nicht alle Güter, die zu gesteigertem Wohlergehen beitragen, unbegrenzt vorhanden sind, können nicht alle Bürger maximal glücklich werden. Nehmen wir beispielsweise an, dass ein Mehr an Vermögen das Wohlergehen eines Menschen immer steigert und also ein Zugewinn immer glücklicher macht, wenn auch vielleicht nur noch sehr geringfügig, wenn man bereits ein großes Vermögen besitzt. Das gesamte Vermögen einer Gesellschaft ist aber begrenzt. Dann ist es nicht möglich, allen Menschen das höchste überhaupt vorstellbare Wohlergehen zukommen zu lassen, sondern nur das jeweils größtmögliche, das mit diesen begrenzten Ressourcen für jeden Einzelnen erreicht werden kann.
Bedeutung der Verteilung
In einem Staat, der das Wohlergehen jedes Einzelnen zum prinzipiellen Ziel hat, müssen Güter, die einen Einfluss auf das Wohlergehen haben, aus gesamtstaatlicher Sicht immer nach zwei Kriterien analysiert werden: ihrer Menge im Aggregat, also wie viel es insgesamt von einem bestimmten Gut gibt, und ihrer Verteilung, also wie sich die aggregierte Menge auf jeden Einzelnen in der Gesellschaft aufteilt. Weil der Staat nicht das „Gemeinwohl“ oder eine bestimmte Form „allgemeinen“ Wohlergehens zum Ziel hat, sondern das Wohlergehen jedes Einzelnen separat betrachten muss, reicht das Kriterium der aggregierten Menge eines Gutes für politische Entscheidungen, die dieses Gut betreffen, nicht aus: Die Information, wie viel von einem Gut in der Gesellschaft insgesamt vorhanden ist, hat keinerlei Aussagekraft darüber, wie viel einer bestimmten Person zukommt. So könnte ein aggregiert betrachtet riesiges Vermögen auf eine oder wenige Personen konzentriert sein, während andere nichts besitzen – dies wäre sicher kein Staat, der das Wohlergehen jedes Einzelnen im Blick hätte. Eine Aussage über die Güterausstattung des Einzelnen ist nur mit Informationen sowohl über die aggregierte Menge des Gutes als auch über seine Verteilung möglich.
Begrenzt vorhandene Güter besitzen immer eine Verteilung, d. h. jedem Einzelnen kommt ein bestimmter Anteil dieser Ressource zu. Dies bedeutet, dass z. B. das gesamte Nationaleinkommen einer Gesellschaft in einer bestimmten Form aufgeteilt ist auf alle Bürger dieser Gesellschaft, weil es nur in einem gewissen Ausmaß verfügbar ist. Verteilung ist außerdem konzeptuell unabhängig von der aggregierten Menge und dem Wachstum der Ressource: Wirtschaftswachstum etwa sorgt nicht dafür, dass dieser Wohlstand nicht auch auf jeden Einzelnen irgendwie verteilt sein muss. Jegliches begrenzte Gut muss also in bestimmter Weise verteilt sein.
Abhängigkeiten der Verteilungen von Institutionen
Dabei sind viele Verteilungen von Gütern, die das Wohlergehen jedes Einzelnen beeinflussen, abhängig von gesellschaftlichen Institutionen, z. B. Einkommen, Vermögen oder Status und Anerkennung. Es gibt also bei diesen Gütern keine sich „natürlicherweise“ ergebenden Verteilungen, die eine höhere Rechtfertigung genießen allein dadurch, dass sie im Gegensatz zu anderen möglichen Verteilungen existieren – sie existieren schließlich nur aufgrund der in dieser bestimmten Form vorhandenen gesellschaftlichen Umstände. Wer wie viel wovon bekommt, ist immer eine die gesamte Gesellschaft betreffende Frage. Durch politische und gesellschaftliche Institutionen wie Recht oder Normen entscheiden sich viele Verteilungsfragen, wie etwa bei Grund und Boden, Status und Anerkennung, Einkommen und Vermögen oder Rechten und Pflichten.
Notwendigkeit gerechter Verteilungsprinzipien
Wenn Verteilungen von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen beeinflusst werden, stellt sich die Frage, wie diese Institutionen im „besten“ Staat beschaffen sein müssen. Dass der Staat das größtmögliche Wohlergehen jedes Einzelnen zum Ziel hat, besagt ja nicht, wie bei Verteilungsfragen entschieden werden muss – wenn Güter nur begrenzt vorhanden sind, muss prinzipiell irgendwie entschieden werden, wie diese Güter auf die einzelnen Menschen verteilt sein sollen.
In einem Staat, den jeder einzelne Bürger prinzipiell bevorzugen würde, der also der beste Staat ist, kann dies ausschließlich nach einem Prinzip der Gerechtigkeit erfolgen, das bemisst, wie viel von einem Gut einer bestimmten Person in der Gesellschaft zukommen soll. Jegliche Institutionen und politischen und gesellschaftlichen Handlungen, die keinem Prinzip der Gerechtigkeit folgen, also nicht gerechtfertigt werden können, entsprechen keiner Ausgestaltung des besten Staates, sondern historisch gewachsenem Zufall oder geformter Willkür – niemand würde einen nicht gerechten Staat gegenüber einem gerechten bevorzugen, weil nur der gerechte Staat jedem garantieren kann, dass ihm zukommt, was ihm zusteht. Der Staat muss also alle seine Beeinflussungen von Verteilungen nach Maßgabe der Gerechtigkeit ausgestalten. Der beste Staat ist also derjenige, der das größtmögliche Wohlergehen jedes Einzelnen unter der Bedingung gerechter Verteilungen zum Ziel hat.
Gerechtigkeit setzt auch voraus, dass bei Entscheidungen, in welcher Form Staat und Gesellschaft Verteilungen von Gütern beeinflussen sollten, das Wohlergehen jedes Einzelnen mit dem gleichen Gewicht in das Entscheidungskalkül einbezogen werden muss. Natürlich könnten unterschiedliche sachliche Gründe – z. B. größere Anstrengung als Rechtfertigung für höheres Einkommen oder die Übernahme von Kosten für notwendige Medikamente – dazu führen, dass ein Ergebnis gerecht ist, das nicht allen das gleiche zukommen lässt.
In Abwesenheit rechtfertigender Gründe, die im Folgenden untersucht werden, ist aber nur eine Gleichverteilung gerecht. Deshalb muss der beste Staat auf jeden Fall, wie bereits unter der ersten Prämisse beschrieben, gleiche Menschen- und Bürgerrechte garantieren, also z. B. Meinungsfreiheit, Freiheit der eigenständigen Lebensgestaltung und gleiche demokratische Mitbestimmung.
Dritte Prämisse: Gerechte Ungleichheiten
Gerechtigkeit besteht, wenn nur diejenigen Unterschiede in der Verteilung des Wohlergehens existieren, die durch individuelle Verantwortung begründbar sind.
Zwei Arten von Ungleichheiten in der Verteilung des Wohlergehens
Ungleichheiten und Unterschiede in Verteilungen beschreiben Abweichungen vom Zustand der Gleichverteilung. Im Folgenden soll zwischen zwei Arten von Ungleichheiten unterschieden werden: Die einen entstehen aufgrund von Ursachen, die der Einzelne nicht zu verantworten hat, die anderen aufgrund individueller Verdienste und eigener Verantwortung. Unterschiede im Wohlergehen, die beispielsweise auf genetische Unterschiede wie etwa eine erhöhte Disposition zur Depression zurückzuführen sind, entsprechen der ersten Kategorie, während z. B. ein Unterschied im Wohlergehen, der durch unterschiedliche Einkommen zustande kommt, die wiederum auf unterschiedliche Anstrengung zurückzuführen sind, in die zweite Kategorie der selbst verantworteten Unterschiede fällt.
Nicht selbst verantwortete, also ungerechte, Unterschiede
Die Aufrechterhaltung der ersteren Unterschiede, also der nicht selbst zu verantwortenden, kann nicht gerecht sein. Wenn eine Möglichkeit zur Umverteilung besteht, so müssen diese Unterschiede ausgeglichen werden. Wenn Unterschiede bestehen, die der Einzelne nicht selbst zu verantworten hat, sind Einzelne schlechter gestellt als sie es sein müssten, weil andere dafür besser gestellt sind, ohne dass es dafür eine Rechtfertigung gäbe.
Dies widerspricht aber den Prinzipien der ersten Prämisse, des größtmöglichen Wohlergehens jedes Einzelnen, und der zweiten Prämisse, der gerechten Verteilung. Benachteiligungen im Wohlergehen, die der Einzelne nicht zu verantworten hat, die aber durch Änderungen der staatlichen und gesellschaftlichen Umstände ausgeglichen werden könnten, können nicht gerechtfertigt werden und widersprechen demnach jedem Prinzip der Gerechtigkeit.
Prinzipiell sind alle Unterschiede im Wohlergehen ungerecht, für die der Einzelne keine Verantwortung trägt, also auch solche, die nicht direkt durch Staat oder Gesellschaft beeinflusst werden: Beispielsweise sind Ungleichheiten im Wohlergehen, die auf unterschiedliche genetische Dispositionen zurückzuführen sind, ebenfalls ungerecht. Im Gegensatz zu anderen Wohlergehens-Unterschieden, die z. B. auf die ungleiche Verteilung von Einkommen zurückzuführen sind, liegt die Verursachung und somit die Verantwortung zur gerechten Begleichung dieser Unterschiede aber nicht unmittelbar bei Staat und Gesellschaft.
Selbst verantwortete, also gerechte, Unterschiede
Dagegen sind die zweiten Unterschiede, die jeder Einzelne selbst zu verantworten hat, gerecht. Entstehen Ungleichheiten im Wohlergehen aufgrund von Leistung, Anstrengung oder besonderem Engagement, so können diese Ungleichheiten genau damit begründet und gerechtfertigt werden. Selbst zu verantworten ist allerdings nur, was mit unabhängigem, freiem Willen entschieden wird und nicht das Ergebnis äußerer Umstände ist.
Vierte Prämisse: Geringe individuelle Verantwortung
Das Wohlergehen jedes Einzelnen ergibt sich immer zu einem großen Teil aus vom Staat beeinflussbaren Verteilungen. Der Anteil individueller Verdienste an Unterschieden im Wohlergehen ist sehr gering.
Gene und Umwelt
Das Wohlergehen jedes Einzelnen ergibt sich immer aus den Zuständen seines Lebens, also der Wahrnehmungen seiner Umgebung und der Handlungen, die sich auf diese Umgebung auswirken, und aus den Genen, die beeinflussen, wie die Empfindung des Wohlergehens auf diese Wahrnehmungen reagiert.
Gene und Umwelt bestimmen also zum großen Teil, wie Menschen handeln und welche Identität sie besitzen – und somit wie glücklich sie sind. Gene entscheiden darüber, auf welchen Nährboden Erfahrungen und Wahrnehmungen treffen, und setzen somit jedem Leben gewisse Wahrscheinlichkeiten für Körper, Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Entscheidungen und die Wirkung von äußeren Einflüssen auf das Wohlergehen. Sozialisation und Erziehung haben in der Wechselwirkung mit den Genen großen Einfluss auf unseren Charakter und unsere Persönlichkeit.
Wie Menschen werden, was sie sind
Ein Großteil der Variation im IQ kann durch unsere Gene erklärt werden; wie wir als (Klein-)Kinder ernährt werden, entscheidet darüber, wie groß wir werden; wie wir wählen, kann weitgehend durch unser Einkommen und unser Arbeits- und Wohnumfeld erklärt werden. Der Schulabschluss unserer Eltern bestimmt zu einem großen Teil, welche Schule wir besuchen – und wie gut wir in der Schule sind, kann allein durch die Herkunft zur Hälfte erklärt werden; ebenso wie die Höhe unseres Einkommens.
Natürlich ließe sich argumentieren, dass durch bessere Förderung in der Schule Unterschiede, die durch Herkunft bedingt sind, beseitigt werden könnten. Durch gleiche Erziehung hin zu mehr Leistungsbereitschaft können vielleicht auch Unterschiede in „Leistungen“ verringert werden – das alles bedeutet aber in der letzten Konsequenz, bei „maximaler“ Förderung und bestmöglicher Erziehung aller, nur, dass sich nur noch durch unterschiedliche Gene bedingte Unterschiede herausbilden.
Welche Persönlichkeit wir entwickeln, ist in erster Linie Ergebnis unserer Erziehung und Erfahrungen. Was wir für moralisch gut oder schlecht halten, wird uns anerzogen. Welche Filme, Musik, Kleidung, Jobs wir mögen hängt in erster Linie von den Erfahrungen ab, die wir gemacht haben, von den Freunden, die uns damit in Verbindung gebracht haben, von Werbung, die unseren Geschmack formt. Welche Meinungen wir haben, lässt sich großteils dadurch erklären, mit welchen anderen Meinungen wir über persönliche Kontakte, Zeitungen, Fernsehen, Internet in Kontakt gekommen sind …
Am deutlichsten aber wird der geringe Einfluss des Einzelnen auf sein Wohlergehen bei der Tatsache, dass niemand beeinflussen kann, wo, in welchem Land, in welcher Stadt, in welcher Wohngegend, er geboren wird. Wie glücklich man wahrscheinlich wird, ist aber entscheidend davon bestimmt, ob man als Afghanin oder als Luxemburger geboren ist.
Dies alles zeigt auch, dass es nicht möglich ist, Menschen von Einflüssen zu „befreien“ und somit ihre eigene Verantwortlichkeit für ihre Handlungen zu vergrößern: Diese äußeren Einflüsse wie das soziale Umfeld, Geburts- und Wohnort, wahrgenommene Meinungen, usw. wirken immer auf Charakter, Erfahrungen, Gedanken ein, sodass sie niemals unabhängig von den äußeren Einflüssen betrachtet werden können.
Anteil individueller Verdienste und Verantwortung ist gering
Wer ein Mensch ist und wie er handelt, hat er zum großen Teil nicht selbst in der Hand. Er trägt dafür objektiv sehr wenig Verantwortung, die außerdem, wo sie möglicherweise vorhanden ist, immer in Abhängigkeit von nicht zu verantwortenden Umständen betrachtet werden müssen, in denen sich Menschen überall und jederzeit befinden. Der Anteil der Ergebnisse seines Handelns, den ein Einzelner als individuelles Verdienst betrachten kann, ist deshalb ebenfalls sehr gering.
Bedeutung der beeinflussbaren Verteilungen ist sehr hoch
Ein substantieller Teil der Verteilungen, die für das Wohlergehen des Einzelnen verantwortlich sind, können nicht direkt von Staat und Gesellschaft beeinflusst werden, z. B. die Verteilung der Gene, und damit entscheidende Faktoren dafür, wie glücklich der Mensch im Laufe seines Lebens ist. Dennoch wird das Wohlergehen im Ergebnis in den meisten Fällen (Ausnahmen wären etwa unheilbare Krankheiten mit starken psychischen Auswirkungen) hauptsächlich durch beeinflussbare Verteilungen bestimmt, weil die Ausstattung von Gütern, deren Verteilung beeinflusst werden kann, zumeist die Auswirkungen nicht beeinflussbarer Ausstattungen von Gütern kompensieren kann. Angenommen, Menschen mit geringeren kognitiven Fähigkeiten wären weniger glücklich als andere, deren Kopf mehr leisten kann, wäre es dennoch möglich, diese Ungleichheit im Wohlergehen, die aufgrund einer nicht beeinflussbaren Verteilung entsteht, durch eine Änderung der Verteilung beispielsweise von Vermögen zu kompensieren: Die Klügere wäre mit relativ geringerem Vermögen genauso glücklich wie der weniger Kluge mit größerem Vermögen. Deshalb ist letztlich auch der Anteil der natürlichen Verteilungen am individuellen Wohlergehen sehr gering.
Folgerung: Größtmögliches Wohlergehen nach Leximin-Verteilung
Aus den Prämissen folgt, dass der Staat größtmögliches Wohlergehen für jeden Einzelnen unter der Bedingung einer gerechten Verteilung nach dem Leximin-Prinzip anzustreben hat. Es sind nur solche Unterschiede akzeptabel, die jeweils schlechter Gestellten zu Gute kommen oder deren Verringerung niemanden, der schlechter gestellt ist, besser stellen kann.
Größtmögliches Wohlergehen unter der Bedingung einer gerechten Verteilung
Aus der ersten Prämisse folgt, dass der Staat prinzipiell, also abstrahiert von der konkreten Umsetzung, das größtmögliche Wohlergehen jedes Einzelnen zum Ziel hat. Wie bereits beschrieben bedeutet dies aber sicher keinen totalitären Staat, der alleine am besten weiß, wie das Wohlbefinden seiner Bürger zu steigern ist: Freiheit ist ein zentraler und unabdingbarer Faktor für das persönliche Wohlergehen. Insofern kann nur eine freiheitliche und demokratische Regierung dem Prinzip der Wohlergehens-Orientierung des Staates entsprechen.
Eine Umsetzung „maximalen“ Wohlergehens ist aber generell nicht möglich, da dazu nötige Güter, wie z. B. Vermögen oder Grund und Boden, nur in begrenztem Umfang vorhanden sind; es ergeben sich immer Verteilungen. Aus der zweiten Prämisse folgt, dass Entscheidungen zu solchen Verteilungen immer nach einem Prinzip der Gerechtigkeit getroffen werden müssen.
Prinzip der gerechten Verteilung
Wie sieht also das Prinzip der gerechten Verteilung im besten Staat aus? Aus der dritten Prämisse folgt, dass bei einer gerechten Verteilung des Wohlergehens nur solche Unterschiede bestehen, die das Ergebnis von Umständen sind, die in individueller Verantwortung liegen. Dabei zeigt die vierte Prämisse, dass das Wohlergehen jedes Einzelnen nur zu einem sehr geringen Teil Folge ist von Handlungen und Umständen, für die der Einzelne selbst verantwortlich gemacht werden kann, sondern großteils durch Gene und Umwelt beeinflusst wird. Dabei können aber gesellschaftlich beeinflussbare Verteilungen ungerechte Auswirkungen nicht beeinflussbarer Verteilungen, wie etwa von Genen, in vielen Fällen kompensieren.
Im Folgenden soll zur Entwicklung des Prinzips der gerechten Verteilung zunächst angenommen werden, dass individuelle Verdienste und Verantwortung, die Unterschiede im Wohlergehen rechtfertigen, nicht vorhanden sind. Im Anschluss wird gezeigt, dass das unter dieser Annahme gefundene Prinzip sich auch mit individuellen Verdiensten vereinbaren lässt.
Notwendige Ungleichheiten
Wenn es keine individuellen Verdienste und Verantwortlichkeiten gibt, die Ungleichheiten rechtfertigen können, ist die sich nach der dritten Prämisse prinzipiell ergebende gerechte Verteilung eine absolute Gleichverteilung: Niemand hat es verdient, besser oder schlechter gestellt zu sein als ein anderer. Allerdings widerspricht eine absolute Gleichverteilung sicher dem eigentlichen Ziel des Staates, das Wohlergehen seiner Bürger zu maximieren: Nicht eine gerechte Verteilung ist das Ziel, sondern größtmögliches Wohlergehen; Gerechtigkeit ist lediglich der Maßstab zur Entscheidung von Verteilungsfragen, also wem bei begrenzten Gütern wie viel von jedem Gut zukommen soll.
Beispielsweise stehen Wohlstand, also verfügbares Einkommen und Vermögen, und Wohlergehen empirisch unbestreitbar in positivem Zusammenhang. Wenn nun aber, wie es bei der prinzipiell geforderten Gleichverteilung der Fall wäre, niemand einen Anreiz hat, sich um etwas zu bemühen, also sich z. B. bei der Arbeit anzustrengen, weil das Ergebnis keinen Einfluss auf sein Wohlergehen hat, da es automatisch gleich auf alle verteilt wird, ergeht es sicher jedem Einzelnen schlechter als in einem gewissen Zustand ungleicher Verteilung. In diesem Zustand ungleicher Verteilung ist also selbst der am schlechtesten Gestellte glücklicher als im Zustand der absoluten Gleichverteilung. Nachdem aber der Einzelne immer den Zustand bevorzugt, der ihm – unabhängig von der allgemeinen Verteilung – das größere Wohlergehen verschafft, sind also auch Ungleichheiten erwünscht, die nicht auf individuelle Verantwortung zurückzuführen sind, aber das Wohlergehen jedes Einzelnen steigern.
Prinzip der wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung
Gewisse Ungleichheiten sorgen also dafür, dass es allen besser geht. Ungleichheiten, die aufgrund der Maxime der Steigerung des Wohlergehens jedes Einzelnen entstehen, dürfen also auch ohne individuelle Verdienste bestehen. Weil aber niemand – unter der Annahme nicht vorhandener individueller Verdienste und Verantwortlichkeit – etwas dafür kann, dass es ihm aufgrund dieser Ungleichheiten schlechter geht als anderen, muss eine gerechte Verteilung immer das Wohlergehen der jeweils am schlechtesten Gestellten maximieren. Als Prinzip der wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung ergibt sich eine sogenannte Leximin-Verteilung des Wohlergehens.
Leximin-Verteilung des Wohlergehens
Die Leximin-Verteilung beschreibt die Verteilung, bei der das individuelle Wohlergehen der jeweils schlechter Gestellten maximiert wird, sodass auf jeder Stufe weder jeweils schlechter Gestellte besser gestellt werden können durch eine Schlechter-Stellung von vorher und nachher besser Gestellten, z. B. durch Umverteilung von Gütern, noch eine Besser-Stellung Einzelner möglich ist, ohne jemanden schlechter Gestellten schlechter zu stellen.
Dies kann man sich als einen Prozess denken, bei dem das Glück der am schlechtesten Gestellten maximiert wird, anschließend das Glück der am zweit-schlechtesten Gestellten und so weiter. Vorstellen kann man sich auch alle möglichen Zustände in Form von Vektoren denken. Diese Vektoren enthalten die Wohlergehens-Werte aller Individuen in diesem Zustand. Gegeben diese Vektoren ist genau der Zustand gerecht, dessen Vektor im Vergleich mit allen anderen den größten kleinsten Wert aufweist. Gibt es mehrere Zustände mit dem gleichen im Vergleich mit allen anderen größten kleinsten Wert, ist von diesen Zuständen der vorzuziehen, dessen zweit-kleinster Wert im Vergleich der größte ist. Gibt es wiederum mehrere gleiche größte zweit-kleinste Werte, so ist der dritt-kleinste Wert zu vergleichen, und so weiter, bis ein einziger Vektor im Vergleich den größten der auf dieser Stufe verglichenen Werte hat. Dies ist der Vektor, der das Ziel des größtmöglichen Wohlergehens nach der Leximin-Verteilung erfüllt.
Es sind also nur solche Unterschiede akzeptabel, die jeweils schlechter Gestellten zu Gute kommen oder deren Verringerung niemanden, der schlechter gestellt ist, besser stellen kann.
Erläuterungen
Unterschiede zu Rawls’ Differenzprinzip
Zur Verdeutlichung sei hier auf einige Unterschiede zum von John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit vertretenen Differenzprinzip als gerechtes Prinzip der Verteilung hingewiesen.
Erstens geht es Rawls beim Differenzprinzip um die Verteilung von Gütern, während das hier aufgestellte Prinzip der glücksmaximierenden gerechten Verteilung in erster Linie eine bestimmte Verteilung von Wohlergehen impliziert (s. u.).
Zweitens ist das Leximin-Prinzip im Vergleich zu Rawls’ Maximin-Prinzip umfassender: Letzteres würde nur auf das Wohlergehensniveau der Unglücklichsten achten, während ersteres auch die Wohlergehensniveaus aller Glücklicheren mit einbezieht.
Drittens dürfen nach dem hier vertretenen Prinzip auch Unterschiede bestehen, die nicht den am schlechtesten bzw. schlechter Gestellten zu gute kommen, und zwar wenn es nicht möglich ist, durch eine Verringerung der Unterschiede das Wohlergehen von schlechter Gestellten zu steigern. Würden Unterschiede verringert, ohne dass damit Unglücklicheren zu mehr Glück verholfen wird, widerspräche das dem in der ersten Prämisse geforderten Ziel größtmöglichen Wohlergehens für jeden Einzelnen.
Vereinbarkeit des Prinzips der wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung mit individuellen Verdiensten
Bei der Entwicklung des Prinzips der gerechten Verteilung wurden individuelle Verdienste und Verantwortlichkeit bisher vernachlässigt. Nun soll gezeigt werden, dass individuelle Verdienste im hier beschriebenen Verteilungsprinzip in allen politisch bedeutsamen Fällen trotzdem enthalten und mit ihm vereinbar sind.
Verdienste können nur von einer Gesellschaft definiert und als solche angesehen werden, nicht von dem Einzelnen, der sie erbringt. Niemand würde einen erfolgreichen Mord als individuelles Verdienst ansehen, auch wenn es der Mörder selbst womöglich tut. Genauso wenig sind Ergebnisse eines mehr oder minder freien Markts durch Verdienste gerechtfertigt, da sich Preise, also etwa Löhne oder Gewinne, durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bilden und nicht aufgrund bestimmter Leistungen oder Anstrengungen. Was verdienstvoll ist und somit als gerechter Unterschied gerechtfertigt werden kann, ist von der Gesellschaft zu definieren und nicht von jedem Einzelnen oder irgendwelchen dafür nicht geschaffenen Institutionen. „Faulheit“ oder „nutzlose Interessen“ z. B. werden ausschließlich von der Gesellschaft definiert – Wohlergehensunterschiede, die sich also daraus ergeben, liegen nicht in der individuellen Verantwortung.
Gegeben Wohlergehen als Ziel jedes Einzelnen und daraus folgend auch des Staates, muss in einer gerechten Gesellschaft als Verdienst das Ergebnis einer verallgemeinerbaren Handlung gesehen werden, die zur Steigerung des Wohlergehens geführt hat. Eben solche individuellen glücksfördernden Verdienste aber sind bereits durch das Prinzip der wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung abgedeckt: Denn diese Verteilung lässt Unterschiede immer zu, wenn sie zur Glücksförderung der schlechter Gestellten beitragen. Ist also beispielsweise bei einem Erwerbstätigen aufgrund höherer Anstrengung ein höheres Einkommen angemessen, also verdient, trägt dieses höhere Einkommen durch Steuern zur Besserstellung schlechter Gestellter bei. Gleichzeitig kommt dem Erwerbstätigen aufgrund dieser Anstrengungen, also individueller Verdienste, ein höheres Einkommen zu als jemandem, der sich nicht anstrengt.
Die Leximin-Verteilung als Prinzip der wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung berücksichtigt also auch individuelle Verdienste. Andere möglicherweise denkbare Handlungen, die auch Wohlergehensunterschiede verursachen und ausschließlich in individueller Verantwortung liegen, sind tatsächlich nicht berücksichtigt – ihre Relevanz erscheint aber so gering, dass sie keinen großen Einfluss auf die Form der gerechten Verteilung haben. Selbst mit Berücksichtigung solcher gerechtfertigter Wohlergehensunterschiede hätte also eine gerechte Verteilung des Wohlergehens annähernd die Form einer Leximin-Verteilung.
Freiheit und Verantwortung
Wie in der vierten Prämisse festgestellt, ist der Anteil individueller freier Einwirkungsmöglichkeiten sehr gering bei allen Handlungen und ihren Auswirkungen auf das persönliche Wohlergehen. Im Extrem ist es nicht abwegig zu argumentieren, dass der Mensch keinen freien Einfluss auf sein eigenes Wohlergehen hat. Der Mensch trägt also zu einem sehr geringen Teil oder vielleicht auch gar nicht vorhandenen Anteil Verantwortung für sich und sein Handeln und seine Entscheidungen.
Das Prinzip des größtmöglichen Wohlergehens impliziert aber trotzdem die gesellschaftliche Notwendigkeit von Verantwortung als Ordnungsprinzip. Es ist davon auszugehen, dass eine Gesellschaft ohne das Prinzip individueller Verantwortung insgesamt unglücklicher ist als eine, in der – eigentlich ungerechtfertigterweise – dem Einzelnen in einem gewissen Maße Verantwortung für seine Handlungen zugerechnet wird.
Ebenso lässt sich sowohl theoretisch als auch durch die Glücksforschung empirisch eindeutig zeigen, dass (empfundene) Freiheit glücklich macht. Freiheit ist also auch unter den Prinzipien der Wohlergehensmaximierung und der gerechten Verteilung nach dem Leximin-Prinzip das wichtigste Gut für jeden Einzelnen.
Hilfsverteilungen von Gütern
Das beschriebene Prinzip der wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung beschreibt eine Verteilung des individuellen Wohlergehens. Es sagt aus, welches Niveau an Wohlergehen für jeden Einzelnen gesellschaftlich gerecht ist, da wegen der Begrenztheit der Ressourcen maximales Glück nicht realisierbar ist. Dieses Prinzip ist aber praktisch schwer umsetzbar: Ein Staat, der versucht, genau zu erfassen, wie glücklich jeder seiner Bürger ist, ist ein totalitärer Staat und widerspricht somit seinem Ziel des größtmöglichen Wohlergehens, da Freiheit – die ein solcher totalitärer Staat per definitionem nicht in ausreichendem Maße ermöglicht – das wichtigste Gut für das Wohlergehen eines jeden ist. Ein Staat kann und darf nicht wissen, wie viel genau wovon jeder Einzelne individuell für sein Wohlergehen braucht.
Ein Staat muss sich deshalb immer mit der Annahme der Gleichheit der Bürger begnügen, wenn nicht abstrakte Gründe für individuelle Berücksichtigung sprechen, wie beispielsweise bei Kranken oder Behinderten. Es können auch keine Gründe Berücksichtigung finden, bei denen von einer Adaption ausgegangen werden kann, sodass im Ergebnis größeres Wohlergehen realisiert werden kann: So sollte ein Staat beispielsweise sicher niemandem wegen einer Vorliebe für teure Autos ein höheres Einkommen als einer (fiktiven) ansonsten gleichen Person ohne diese Vorliebe zukommen lassen.
Deshalb muss die Gesellschaft demokratisch und wissenschaftlich fundiert diskutieren, welche Güter wie zum Wohlergehen der Bürger beitragen. Der Staat kann dann die Verteilung der Güter gemäß einer Leximin-Verteilung anstreben: Freiheiten, Rechte und Pflichten, Einkommen und Vermögen, Fähigkeiten und Chancen, Status und Anerkennung, alle Ressourcen, die Einfluss auf das Wohlergehen jedes Einzelnen haben, sind gerecht zu verteilen.
Entscheidend ist aber letztendlich nicht die Verteilung jedes einzelnen Gutes für sich genommen, sondern die Gesamtausstattung eines jeden Einzelnen, aus der sich sein Wohlergehen ergibt. Schließlich dient die Verteilung der Güter quasi als Instrument zur Erreichung des eigentlichen Ziels, einer gerechten Verteilung des Wohlergehens.
Weitreichende Universalität
Die hier entwickelten Prinzipien, Wohlergehen jedes Einzelnen als Ziel des Staates und eine Leximin-Verteilung als gerechte Form der Verteilung des Wohlergehens, weisen einen hohen Grad an Universalität auf, auch wenn sie abhängig sind von gewissen auf entwickelte westliche Staaten zutreffenden Konzepten.
Grundlegend ist natürlich die Annahme, dass Menschen sich als Individuen fühlen und sich als solche ich-bewusst betrachten; außerdem, dass eine Gesellschaft und ein sie umfassender Staat existiert, in dem Politik mit vollem Einfluss auf staatliche Entscheidungen und teilweisem Einfluss auf gesellschaftliche Bedingungen stattfindet. Ebenso werden Konzepte von Freiheit, Sicherheit, Verantwortung oder aber auch die Möglichkeit von Eigentum vorausgesetzt. Damit werden aber dennoch beinahe alle heute existierenden Gesellschaften von diesen Darstellungen abgedeckt.
Deshalb sind die hier vorgestellten Prinzipien auch in vielen Hinsichten universell: Sie beschränken sich nicht auf bestimmte Umstände von Kulturen oder Gesellschaften, da etwa das Handeln nach der Maxime des Besser-Gehens dem Menschen inhärent ist und nicht erst anerzogen wird oder aberzogen werden könnte. Zwar kann die Ausgestaltung der realen Umsetzung der Wohlergehens- und Verteilungsprinzipien je nach Kultur unterschiedlich ausfallen – es mag z. B. Unterschiede geben, wie viele Anreize ein Einzelner braucht, um für andere wohlergehensfördernd, zum Beispiel als engagierter Arzt, tätig zu werden, und diese Unterschiede können u. a. kulturell bedingt sein. Das Prinzip, das das Ziel aller politischen und gesellschaftlichen Anstrengung zur Gestaltung des Zusammenlebens beschreibt, bleibt aber das gleiche.
Das Verteilungsprinzip ist auch nicht nur auf einzelne Gesellschaften anwendbar, sondern auch auf die Menschheit als ganzes: Die globale Verteilung ist nach diesem Prinzip zu bewerten; politische Prioritäten wären danach zu setzen, wie weit die reale, existierende Verteilung von der gerechten Verteilung abweicht. Dass das Leximin-Prinzip global gesehen weit weniger Realität ist als beispielsweise in Deutschland, ist schnell festzustellen. Die Bekämpfung der globalen Armut sollte also eigentlich das oberste Ziel einer gerechten Politik sein.
Außerdem können nicht nur Verteilungen zu einem bestimmten Zeitpunkt bewertet werden, sondern natürlich auch intertemporale Verteilungen. Was wir als Generationengerechtigkeit kennen, muss also ebenfalls nach dem Leximin-Prinzip definiert werden: Zum Beispiel ist die Ausbeutung der Rohstoffe, ohne damit Perspektiven der Energieerzeugung für zukünftige Generationen zu schaffen, sicher nicht gerecht.
Ebenso ist zu überlegen, ob sich das Prinzip gerechter Verteilung auf Menschen beschränkt oder nicht auch auf Tiere, zumindest solche mit Ich-Bewusstsein, übertragen werden müsste. Aus Sicht der Gerechtigkeit ist beispielsweise schwierig zu argumentieren, warum Schweine, die ähnliche kognitive Fähigkeiten wie Menschenaffen aufweisen, für Menschen zur Nahrung sterben müssen sollen.
Berücksichtigung der Ergebnisse der Glücksforschung
Bei der gerechten Verteilung der Güter sind auf jeden Fall die Ergebnisse der sogenannten Glücksforschung zu berücksichtigen. Mit deren Hilfe ist sowohl besser das Ziel der Wohlergehensmaximierung zu erreichen, weil Staat, Politik und Gesellschaft besser einschätzen können, wessen Wohlergehen sie durch welche Maßnahmen am besten beeinflussen können, als auch das Ziel der gerechten Verteilung, weil besser beurteilt werden kann, welche Umstände tatsächlich für welches Wohlergehensniveau sorgen.
So macht beispielsweise Arbeitslosigkeit sehr stark und lange unglücklich – dies ist dann auch etwa bei Abwägungen über Kündigungsschutz-Regelungen stark zu gewichten und bei der Höhe des Arbeitslosengeldes entsprechend zu berücksichtigen.
Dabei ist aber immer zu beachten, dass ein wohlergehensmaximierender Staat allen Menschen immer genügend Freiheiten lässt, das Leben nach eigener Entscheidung zu führen und zu gestalten, weil ein Staat, genauso wie jeder andere Außenstehende, in den meisten Fällen nicht wissen kann, was das Wohlergehen des Einzelnen wirklich steigert. Doch selbst wenn ein Staat solche Entscheidungen immer richtig treffen könnte, ergäbe sich daraus keine Maxime der staatlichen Planung des Lebens jedes Einzelnen, weil für jeden Menschen die Freiheit in seinen Entscheidungen als solche unabdingbar ist für das Wohlergehen. Die Ergebnisse der Glücksforschung können also helfen, richtige Rahmen zu setzen und gerechte und wohlergehenssteigernde Politik zu machen, müssen aber dabei immer die Freiheit als Voraussetzung für das Wohlergehen berücksichtigen.
Beispielhafte Anwendungen
Verteilung von Einkommen und Vermögen
Die Verteilung von Einkommen und vor allem die Verteilung von Vermögen in Deutschland entspricht eindeutig keiner wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung. Es kann als sicher gelten, dass Geld abnehmenden Grenznutzen hat, dass also einen Millionär hundert Euro zusätzlich weit weniger glücklich machen als einen Arbeitslosen. Auch kann davon ausgegangen werden, dass Manager, Unternehmer, Banker, Ärzte und Anwälte auch bei geringerem Einkommen, also z. B. bei höheren Steuern, gleichen Einsatz für die Gesellschaft bringen würden. Eine gleichere Verteilung von Einkommen und Vermögen ist nach dem Wohlergehens- und Gerechtigkeitsprinzip auf jeden Fall anzustreben.
Erbschaftssteuer
Niemand kann etwas dafür, ob man erbt oder nicht, ob man reiche Verwandtschaft hat oder nicht. Unterschiede durch Erbschaften sind dementsprechend nicht durch individuelle Verdienste begründbar und sollten nur insoweit geduldet werden, wie sie durch vernünftige Vermögensplanung bis zum Lebensende – und damit z. B. auch höheres Erbschaftssteueraufkommen – zur Steigerung des Wohlergehens der schlechter Gestellten beitragen: Würde man Erbschaften komplett sozialisieren, wäre niemand mehr dadurch motiviert, dass man seinen Kindern etwas hinterlassen kann, und es bestünde somit weniger Anreiz für alte Menschen, ihr Vermögen vernünftig einzusetzen, Firmen, die sie besitzen, in einem für die Gesellschaft dienlichen Weg weiter zu führen und Investitionen zu tätigen. Das Wohlergehen von schlechter Gestellten könnte also nur in geringerem Maße gesteigert werden wegen geringerer Umverteilungen, z. B. durch eine Erbschaftssteuer, und auf lange Sicht wahrscheinlich auch durch langsameren technischen Fortschritt.
Die Anreize zum langfristig gerechten und wohlergehenssteigernden Umgang mit Vermögen wären allerdings auch bei höheren Erbschaftssteuern gegeben, sodass etwa in Deutschland eine gerechte Erbschaftssteuer sicher weitaus höher läge als derzeit.
Fokussierung auf die in der Gesellschaft am schlechtesten Gestellten
Nach dem Leximin-Prinzip ist in erster Linie das Niveau der am schlechtesten Gestellten ausschlaggebend. Eine Gesellschaft muss deshalb die größte Anstrengung darauf verwenden, das Wohlergehensniveau der Unglücklichsten anzuheben.
Dies impliziert beispielsweise einen anderen Umgang mit Arbeitslosigkeit, aktive Hilfen für unfreiwillig Obdachlose, bessere Behandlung und Betreuung von psychisch Kranken und allgemein ein anderes Konzept gegen Armut, das die geringe Verantwortung des Einzelnen an seiner Situation anerkennt und deshalb vor allem versucht, die institutionellen Rahmenbedingungen wie den Arbeitsmarkt und ein wenig auf die Schwächsten achtendes Bildungssystem zu ändern.
Grundsicherung durch negative Einkommenssteuer
Um ein höheres Niveau für die am schlechtesten Gestellten zu erreichen, sollte beispielsweise das System der bedingten Grundsicherung ersetzt werden durch ein System der bedingungslosen Grundsicherung, die allen Bürgern garantiert ist und somit viel Unglück abmildern kann, das durch Überprüfung, Demütigung und gesellschaftliche Stigmatisierung entsteht. Dies könnte etwa durch ein Modell der negativen Einkommenssteuer realisiert werden.
Auch sollte das Niveau der Grundsicherung bedeutend höher sein als derzeit. Dies wäre, wie bei der Einkommens- und Vermögensverteilung beschrieben, durch größere Umverteilung bzw. auch durch Verhinderung der Entstehung von solch großen Unterschieden möglich, ohne dass das allgemeine Wohlstands- und damit Wohlergehensniveau sinkt.
Grundversorgung durch öffentliche Versorgung
Durch öffentliche Versorgung kann ein hohes Niveau Gütern ermöglicht werden, die allen zur Verfügung stehen sollen, da Selektion nach Status oder Wohlstand, wie sie auf privaten Märkten immer stattfindet, verhindert werden kann oder zumindest nur abgemildert vorhanden ist.
Ein hohes Niveau der Grundversorgung von Gütern kann z. B. auch über progressive Tarife erreicht werden. So sollten etwa Strom, Gas oder Wasser, die in gewissem Umfang essentielle Güter des Lebens sind, in Höhe eines gewissen Freibetrags für alle gleichermaßen zur Verfügung gestellt werden, und ab Erreichen dieses Grundfreibetrags dann nach progressiven Tarifen zu bezahlen sein. Denn auch so könnte ein hohes Niveau der am schlechtesten Gestellten garantiert werden, ohne die durch manche Ungleichheiten entstehenden Wohlergehenssteigerungen unberücksichtigt zu lassen.
Ganztages-Gesamtschule
Wenn niemand etwas dafür kann, als Kind welcher Eltern man geboren wird, in welchem Umfeld man aufwächst oder welche Umgebung zum Lernen man bekommt, muss versucht werden, denjenigen, die dadurch benachteiligt werden, durch staatliche Bildungseinrichtungen wie Schule oder auch, bei jüngeren Kindern, in Krippen und Kindergärten, ein glücklicheres Leben zu ermöglichen.
Dies führt zum Beispiel zur Forderung nach einer Ganztages-Gesamtschule. Ganztags, weil nur so Benachteiligungen durch das soziale Umfeld – manche Eltern lesen mit ihren Kindern, andere setzen sie vor den Fernseher – entgegnet werden kann. Gesamtschule, weil nur dann Segregation nach sozialen und anderen Kriterien und somit Ungerechtigkeiten, die insgesamt nicht wohlergehensfördernd sind – Gymnasien sorgen keineswegs für ein allgemein höheres Leistungsniveau –, verhindert werden können.
Fokussierung auf die global am schlechtesten Gestellten
All das bisher Beschriebene zeigt zwar wichtige Wege für eine bessere und gerechtere Gesellschaft auf. Die größte Ungerechtigkeit, der gerade reiche Nationen wie Deutschland entgegentreten müssen, ist aber die globale Ungleichheit. Ein Kind in Afghanistan und ein Kind in Luxemburg können beide nichts für ihre Herkunft. Und doch entscheidet genau diese Herkunft zum Großteil darüber, wie glücklich sie werden können. Deshalb ist die Bekämpfung der globalen Ungleichheit und insbesondere die Besserung der Umstände für die Menschen, denen es auf der Erde am schlechtesten geht, die Hauptaufgabe gerechter Gesellschaften.
Dabei ist aber darauf zu achten, auf welchem Weg man diese Ungerechtigkeit bekämpfen kann. Hilfe von außen wird kein stabiles, gesundes System wohlhabender Gesellschaften erzeugen. Es müssen also Wege gefunden werden, wie Entwicklungen angestoßen und begleitet werden können, die in Staaten münden, in denen Menschen nachhaltig ein hohes Wohlergehen erfahren. Diese Wege müssen aber gleichzeitig dafür sorgen, dass den Menschen und Staaten, denen geholfen wird, ihre Autonomie erhalten bleibt, da sich nur so wirklich glücklich machende Systeme entwickeln können.
Ein paar Literaturhinweise
Anger, Silke (2012): „Die Weitergabe von Persönlichkeitseigenschaften und intellektuellen Fähigkeiten von Eltern an ihre Kin“, in: DIW Wochenbericht, 29/2012, 3–12.
Easterlin, Richard A. (1974): „Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence“, in: David, Paul A.; Reder, Melvin W. (Hrsg.): „Nations and Households in Economic Growth: Essays in Honor of Moses Abramovitz“, Academic Press, New York.
Hanushek, Eric A.; Wößmann, Ludger (2006): „Does Educational Tracking Affect Performance and Inequality? Differences-in-Differences Evidence across Countries“, Economic Journal, 116(510), C63-C76.
Helliwell, John; Layard, Richard; Sachs, Jeffrey (2013): „World Happiness Report“, UN Sustainable Development Solutions Network, New York.
Layard, Richard (2005): „Happiness. Lessons from a New Science“, The Penguin Press, London.
Rawls, John (1971): „A Theory of Justice“, Harvard University Press, Cambridge, MA.
Schnitzlein, Daniel D. (2013): „Wenig Chancengleichheit in Deutschland: Familienhintergrund prägt eigenen ökonomischen Erfolg“, in: DIW Wochenbericht, 4/2013, 3–9.
5 KOMMENTARE
Vorab:
Nichts dient der Klärung politischen Handelns mehr, als der Diskurs formulierter Positionierungen, auch wenn man diese nicht (vollständig) teilt. Von daher einige Anmerkungen zum „Wohlergehen und gerechte Verteilung“.
Zunächst der Versuch einer eigenen Zusammenschau der Aussagen:
Die Eingangsaussage (1. Prämisse), dass jeder Mensch immer so handelt, dass es ihm nach eigener Abschätzung am besten geht, stellt das Individuum in den Vordergrund, das „egoistisch“ ausgerichtet, seinen Weg verfolgt. (S. 1) Freiheit, Reichtum, Gesundheit werden in diesem Umfeld Mittel zum Zweck (S. 2).
Gleichzeitig ist der „Anteil individueller Verdienste an Unterschieden im Wohlergehen …sehr gering.“ (S. 7) Noch deutlicher: „Wie … festgestellt, ist der Anteil individueller freier Einwirkungsmöglichkeiten sehr gering bei allen Handlungen und ihren Auswirkungen auf das persönliche Wohlergehen. Im Extrem ist es nicht abwegig zu argumentieren, dass der Mensch keinen freien Einfluss auf sein eigenes Wohlergehen hat.“ (S. 12) Von daher ist dann nur konsequent, dass der Einzelne eine geringe individuelle Verantwortung für seine Situation und für seine Entwicklung zu tragen hat (S. 9).
Zum Ausgleich des Wirkungsdefizits tritt der Staat an die Stelle des handelnden Individuums, der ein „größtmögliches Wohlergehen für jeden Einzelnen unter der Bedingung einer gerechten Verteilung … anzustreben hat.“ (S. 9) Und damit folgt, dass sich das Wohlergehen jedes Einzelnen (4. Prämisse) immer „zu einem großen Teil aus vom Staat beeinflussbaren Verteilungen [ergibt]. Da viele Güter nur begrenzt vorhanden sind, die zu einem gesteigerten Wohlergehen beitragen können, müssen diese bei der Verteilung Staat und Gesellschaft gerecht verteilt werden“(Prämisse 3).
Und weiter; „Wenn es keine individuellen Verdienste und Verantwortlichkeiten gibt, die Ungleichheiten rechtfertigen können, ist die sich nach der dritten Prämisse prinzipiell ergebende gerechte Verteilung eine absolute Gleichverteilung: Niemand hat es verdient, besser oder schlechter gestellt zu sein als ein anderer.“ (S. 10)
„Allerdings widerspricht eine absolute Gleichverteilung sicher dem eigentlichen Ziel des Staates, das Wohlergehen seiner Bürger zu maximieren: Nicht eine gerechte Verteilung ist das Ziel, sondern größtmögliches Wohlergehen; Gerechtigkeit ist lediglich der Maßstab zur Entscheidung von Verteilungsfragen, also wem bei begrenzten Gütern wie viel von jedem Gut zukommen soll.“ (S. 10)
Und dennoch: „Entstehen Ungleichheiten im Wohlergehen aufgrund von Leistung, Anstrengung oder besonderem Engagement, so können diese Ungleichheiten genau damit begründet und gerechtfertigt werden.“ (S. 7)
Diskurs und offene Fragen:
Die Beschreibung des Individuums und der Gesellschaft, bzw. des Staates erscheint mir – wenn oben stehende Zusammenschau zumindest ansatzweise zutreffend ist – unstimmig. Welche (sinnhaften) Handlungsmöglichkeiten hat das Individuum wirklich? Und wenn es keine hat – keinen freien Einfluss auf das eigene Wohlergehen – , warum sollte es dann überhaupt handeln und nicht nur auf das „Geführt-werden“ durch den Staat warten? Und welche Bedeutung hat die Freiheit für den Einzelnen, wenn sie keine Wirkung auf seine eigene Entwicklung und Stellung in der Gesellschaft hat? Welche Bedeutung, welchen Sinn hat die Existenz des Individuums, wenn seine Handlungsmöglichkeiten, seine Freiheit so beschränkt ist, wie es dargestellt wird? Was kann der Einzelne aus wirklich eigener Leistung und Anstrengung wirklich mehr wie andere leisten, dass eine Ungleichheit zu seinen Gunsten gerechtfertigt ist?
Notwendig erscheint mir daneben auch eine klarere Definition des Begriffs „Besser-gehen“. Dies insbesondere deshalb, weil das „Besser-Gehen“ das einzige Kriterium [ist], nach dem wir verschiedene Handlungsoptionen bewerten und auswählen.“ (S. 1) Die Ausführungen bringen Ansätze, was ein „Besser-gehen“ bedeutet, liefern aber keine klare Beschreibung, auf welchen Punkt hin „Besser“ ausgerichtet wird und wie zu diesem Punkt hin „optimiert“ werden kann. Insbesondere ist es nicht so beschrieben, dass dem (abstrakten) Staat eine verbindliche Richtschnur für die Definition seines regulierenden Handelns (legislative Normgebung) aufgezeigt werden könnte. Und weiter: Was ist Glück und Zufriedenheit? Zielgrößen, die individuell bestimmt und wahrgenommen, aber nicht absolut definiert werden (können). Glück und Zufriedenheit hängt auch vom zeitlichen und subjektiven Kontext ab, in dem die Glück und Zufriedenheit auslösenden Ereignisse eintreten.
Aktuelles Beispiel: Wenn man aus einem Kriegsgebiet der Willkür von Aggressoren gerade entkommen ist, wird die Unterbringung in einem halb verfallenen Haus ohne Möbel und das Essen von altem Brot sicherlich anders wahrgenommen, wie in einer anderen, „glücklicheren“ Lebenssituation. Wo ist der Maßstab, wo die angestrebte Größe von Glücks und Zufriedenheit? Und ist der Mensch in der vorgenannten Situation mit seinem persönlichen Handeln (womöglich allein gelassen, von einem für sein Wohlergehen handelnden Staat) nicht der Einzige, der wirklich für die Veränderung in seinem Wohlergehen Sorge tragen kann? Alleine oder im Zusammenwirken mit anderen Menschen – aber regelmäßig ohne „ordnenden“ Staat.
Unabhängig davon: Wer „beauftragt“ den Staat, wer gibt dem Staat in welcher Form mit welcher Definition vor, was er zu regeln und wie er zu gestalten hat? Und wer handelt für diesen Staat? Menschen, die bereits beim Handeln im eigenen Bereich keinen Einfluss auf das eigene Wohlergehen haben? Hier scheint mir die optimistische Hoffnung auf einen positiv funktionierenden Staat von der aktuell wahrnehmbaren Realität in keinster Weise gerechtfertigt. Gerade die Defizite aktuell handelnder Politik weltweit – und in gleicher Weise die Defizite in der (die Politikentscheidungen vorbereitenden und umsetzenden) Verwaltung – erscheint mir nicht wirklich geeignet, auf eine solche Staatsstruktur zu hoffen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil viel zu häufig nicht das „Besser-gehen“ der Summe der einzelnen Bürger, sondern das eigene „Besser-gehen“ des Entscheiders als „Ziel des Staates“ zu erkennen sind.
Um der Frage des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat näher zu kommen, müsste eine Beschreibung und/oder Definition erfolgen, wie sich Staatsmacht ableitet und entwickelt, wer für deren Umsetzung sorgt und wie dies legitimiert wird. Die Formulierungen, die einen abstrakt vorhandenen Staat einfach voraussetzen, erscheinen mir eindeutig zu kurz gegriffen. Vielmehr ist es doch so, dass die handelnden Individuen als Bürger zu einer besseren Organisation ihres gemeinschaftlichen Handelns Organisationsstrukturen entwickeln, in der mit einem klaren Auftrag Zuständigkeiten und Befugnisse (Entscheidungs- und Vollzugskompetenz auf Politik und Verwaltung) übertragen werden.
Hier ist klar zu erkennen, dass das Individuum in der Gesellschaft zum „Besser-gehen“ aller in der Gemeinschaft sehr wohl handelt, immer gehandelt hat und damit explizit in einem nicht zu unterschätzenden Umfang selbst zu einem besseren Wohlergehen beigetragen hat. Und das gerade dadurch, dass die Gemeinschaft „Staaten“ erst schafft. Dass es in der Umsetzung des Auftrags an Politik und Verwaltung in diesen Staaten hapert, ist bedauerlich aber kein Grund die Struktur in dieser Form grundsätzlich in Frage zu stellen.
PS: Leider verbietet die aktuelle Tages-(besser Nacht-)Zeit noch umfassender und genauer auf den Text einzugehen. Dennoch oder gerade deshalb: die Diskussion kann fortgesetzt werden.
Danke für den Kommentar! :)
Ich versuche mal, die von dir angesprochenen Punkte abzuarbeiten ;)
Was du als unscharfe Definition kritisierst, ist ja genau auch die Aussage meines Texts: Es ist nicht eindeutig, was „Besser-Gehen“ bedeutet, weil es von Mensch zu Mensch variieren kann und eben genau nicht auf ein besonderes Ziel hin gerichtet ist, auf dessen Erreichung alle Handlungen optimiert werden (könnten). Fest steht nur: Jeder Mensch tut in seinen Entscheidungen immer das, womit es ihm (in diesem Moment, intuitiv, egal) am besten geht. Jeder will also, dass es ihm, über sein gesamtes Leben betrachtet, am besten geht – hätte er also alle verschiedenen Leben, die er leben könnte, zur Auswahl, würde er das nehmen, mit dem er sich am besten, also am glücklichsten fühlt.
Weil das aber immer von jedem Einzelnen abhängig ist und kein Außenstehender genau wissen kann, was einen bestimmten Menschen glücklich macht, ist es schwierig, daraus konkrete Leitlinien für die Politik abzuleiten – trotzdem lassen sich m. E. schon gewisse Dinge aus der Empirie ableiten, z. B. dass für Menschen, auf jeden Fall für diejenigen, die nach westlicher Kultur sozialisiert wurden, Freiheit unabdingbar für ihr Wohlergehen ist; dass der Mensch ebenso gewisse Sicherheiten benötigt; dass Wohlstand zumindest bis zu einer relativ hohen Grenze Wohlergehen fördert …
Der entscheidende Punkt ist, dass ein Großteil dieser Einflussfaktoren immer von außen bestimmt werden; es geht nicht darum, ob das Individuum selbst handelt (tut es natürlich – auch unter der Annahme vollkommener Determination des Willens wäre gleichzeitig die Empfindung von Freiheit unabdingbar für das Wohlergehen), sondern dass sich das Wohlergehen immer erst im Kontext der Umgebung ergibt. Z. B. ist dein Einkommen sicher wichtig für dein Wohlergehen; Einkommen gibt’s aber nur aufgrund bestimmter gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen. Außerdem könnte der Staat auch entscheiden, dir einfach mal alle Steuern zu erlassen oder Geld zu schenken, und dir damit höheres Wohlergehen bereiten. Entscheidend ist, dass eine bestimmte Umgebung (der Marktmechanismus, das bestehende Steuersystem, bestehende Normen „angemessener“ Bezahlung) ja nicht deswegen legitimiert sind, nur weil sie bestehen – sie müssen immer als eine Möglichkeit unter vielen betrachtet und bewertet werden. Deshalb spielt ein Staat, sowie er besteht, immer eine zentrale Rolle, weil immer begründet werden muss, wie er handelt, egal ob er nicht oder weitreichend handelt und in welcher Weise.
Dein Beispiel mit Kriegsgebieten ist übrigens unzulässig ;) Ich schreibe ja (unter „Weitreichende Universalität“), dass das ganze einen „funktionierenden“ Staat voraussetzt; als funktionierend würde ich aber auch unseren deutschen und die meisten anderen westlichen Staaten ansehen, weil sie nämlich – und das ist das Entscheidende – die Rahmen setzen, die auch befolgt werden, nach denen Verteilungen in diesen Staaten entstehen.
Vielleicht sind ja ein paar Sachen klarer geworden jetzt? ^^
Zwei Nachträge:
Das „Besser-gehen“ zu definieren ist schwer, da sind wir uns sicher einig. Und das der Mensch genau deshalb seine Entscheidungen, was er sich Gutes tut, „aus dem Bauch trifft“, ist die Folge. Wie die daraus notwendigerweise resultierenden Mechanismen auf Seiten des Staates funktionieren, ist im Grund dann auch nur allgemein und abstrakt zu beschrieben. Dennoch und damit zurück zum Ursprungstext: Wie kann „der Staat“ bei solchen Randbedingungen des handelnden Einzelnen einen tiefen steuernden Eingriff zur Verteilung von Gütern leisten, wenn schon der einzelne Bürger nicht klar beschreiben kann, was für sein „Besser-gehen“ eine sinnvolle „Unterstützung“ oder ein regelnder Ausgleich wäre. Und zwar so, dass die anderen Menschen für den Vorteil des Einzelnen keine ungerechtfertigten Nachteile in Kauf zu nehmen haben. Im Ergebnis kann von daher doch nur gefordert werden, dass der Staat sich mit seinen regulierenden Eingriffen nicht auf die „allgemeine Grundverteilung“ einlässt, sondern nur für das Gemeinwesen in Summe ungewollte „Spitzenausschläge abfedert“ – nach oben wie nach unten.
Zu dem von mir dargestellten Beispiel: Da geht es mir nicht um den Staat, sondern um den Blick auf den Menschen, der mit den geschilderten Situationen konfrontiert ist. Von daher denke ich schon zutreffen (wir leben weltweit nicht nur in funktionierenden Staaten), wenn auch wie jedes Beispiel verkürzend …
Meiner Meinung nach lässt sich heutzutage sehr eindeutig herausfinden, unter welchen Umständen es Menschen (ceteris paribus, wie man in der Ökonometrie so schön sagt) besser geht, z. B. durch die Auswertung von Panel-Umfragen zur Zufriedenheit der Menschen.
Deine Lösung einer Abfederung der Extreme stellt m. E. aber keine Alternative dar: Es gibt eben keine „natürlichen“ Verteilungen und Lebensverhältnisse, in die der Staat oder die Gesellschaft „eingreift“, weil alle unsere Verhältnisse immer erst durch Staat und Gesellschaft zustande kommen, genauso wie sie immer erst durch alle Individuen geformt werden! Selbst wenn die Schlussfolgerungen aus der Logik des Besser-Gehens tatsächlich vollkommen unscharf wären (was sie m. E. nicht sind, s. o.), müsste man sich daran orientieren, weil alles andere bedeuten würde, sich der Willkür der aktuell herrschenden Verhältnisse an Macht, Wohlstand und Institutionen wie etwa dem „Markt“ zu unterwerfen.
Zu deinem Beispiel: Wenn es keinen Staat gibt, der Verhältnisse gestalten kann, muss man sich auch nicht über die wünschenswerte Gestaltung unterhalten. Dieses Beispiel zeigt aber sehr schön, dass deine Argumentation zugunsten der wie auch immer nicht staatlich beeinflussten Sphären nicht funktioniert: weil du dann im Fall von Krieg zum Recht des Stärkeren – jeder sorgt für sein Wohlergehen auf seine Art und Weise – anstatt einer Vorstellung von Gerechtigkeit kommst.
Ich versuch es mal auf den Punkt zu bringen:
Es geht um die Frage, was ist der Mensch und welche Freiheit besitzt er und was ist der Staat und woher bezieht er seine Aufgabe und Legitimation. Ich sehe kein abstraktes Gebilde Staat, das unabhängig von den Menschen „besteht“ und per se die Aufgabe besitzt für das individuelle Wohlergehens zu sorgen, sondern eine Organisation, die in Folge der Übertragung von gemeinschaftlichen Aufgaben durch Menschen auf eine sich genau dann bildende (staatliche) Struktur entsteht.
Darüber hinaus: Die Alternative zu der Position „alles dem Markt zu unterwerfen“ (die nicht meine ist – und die ich auch nicht beschrieben habe) ist nicht, den Staat als zentral Handelnden zu setzen, der für eine wohlergehensmaximierenden gerechten Verteilung von „Ressource“ und damit für ein „Besser-gehen“ der Menschen sorgt (auch diese Position ist nicht meine). Da bleibt mir der Mensch als freies Individuum – der auch für sein Handeln und Nicht-Handeln in der Verantwortung steht – zu sehr auf der Strecke. Der Mensch ist nun mal mehr als die Figur in einem „Spiel“, das sich „Staat“ nennt und das sich selbstorganisierend in eine „Zukunft“ führt. Um im Bild zu bleiben, der Mensch „spielt“ und kann die Regeln zur Laufzeit beeinflussen. Wenn dabei jeder für sein Wohlergehen auf seine Art und Weise sorgt und der Blick zu wenig auf Bedürfnisse in seinem Umfeld schaut, kann das auch daneben gehen. Deswegen die Freiheit zu beschränken (unmittelbar oder durch Verlagerung der Handlungsebene), halte ich nicht für berechtigt, weil es auch die Freiheit „positiv für die Gemeinschaft zu Handeln“ beschränken würde.
Nochmal zum Beispiel: Es ging mir nicht um eine Aussage zum Staat (ich hab auch nicht gesagt, dass es einen Staat nicht gibt, der Verhältnisse gestalten kann, am besten natürlich auch einen „funktionierenden“ Staat), sondern ausschließlich um eine Aussage, dass die Wahrnehmung des Menschen, wie es Ihm geht und was er möglicherweise braucht, dass es im „Besser-geht“ wesentlich beeinfluss sind, von der vorausgegangenen und (erwartet) nachfolgenden Lebenssituation.
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