„Leitkultur“?! Für funktionierende Integration sind ideologische Opfer von Rechts…
Es gibt wenige Begriffe, die in linken Kreisen solch dramatische Abneigung auslösen wie der der „Leitkultur“. Deswegen beschreibt Thomas Oppermann, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, „warum es in Deutschland keine ,Leitkultur‘ geben kann“: weil man in Deutschland niemandem seine Lebensweise vorschreiben kann, sofern sie mit den deutschen Gesetzen vereinbar ist. Oppermann schreibt aber auch:
„Offenheit bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Einen Platz in dieser Gesellschaft finden deshalb nur jene, die die Grundwerte unserer republikanischen und demokratischen Ordnung als verbindlich ansehen. Wer dauerhaft hier leben will, muss die deutsche Sprache lernen, für sich selbst Verantwortung übernehmen, die Rechte von Frauen und Kindern achten, auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung verzichten sowie Andersdenkende und Andersgläubige respektieren. Das sind die Leitplanken für ein freies und selbstbestimmtes Leben in Deutschland. Das darf und muss der Staat von allen Bürgern verlangen. Das ist eine klare, unmissverständliche Botschaft – auch für Einwanderer und Flüchtlinge.“
Für mich liefert Oppermann damit eine 1a-Definition davon, was man unter „Leitkultur“ verstehen könnte, wenn die Konservativen mit dem Begriff in den 2000er Jahren nicht solchen Unfug getrieben hätten. Die Essenz besteht für mich in der Erkenntnis, dass dauerhafte Integration – sei es von Flüchtlingen, sei es von anderen Gruppen und Einzelnen, die sich nicht zugehörig fühlen zu unserer Gesellschaft – viel mehr erfordert als das bloße Befolgen aller Buchstaben deutschen Rechts.
Ideologische Opfer von Links und Rechts
Soll die Integration der vielen Flüchtlinge in den nächsten Jahren funktionieren, müssen meines Erachtens sowohl von Links als auch von Rechts Opfer gebracht werden, indem man sich von früheren ideologischen Positionen entfernt.
Linke müssen akzeptieren, dass es Unterschiede zwischen Kulturen und innerstaatlichen Umgangsformen gibt, und dass diese Unterschiede nicht wertneutral zu betrachten sind. Der Entwicklungsökonom Paul Collier, dessen Buch „Exodus“ ich jedem wärmstens empfehle, verwendet zur Beschreibung dieser unterschiedlichen Institutionen und Kulturen in verschiedenen Ländern den Begriff „Sozialmodell“. Mit diesem erweiterten institutionellen Ansatz lassen sich die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern weit besser erklären als mit anderen (z. B. geographischen) Theorien. Wenn es Sozialmodelle gibt, die zu mehr Wohlstand führen, und andere, die zu weniger Wohlstand führen, heißt dies für die Länder mit funktionierenden Sozialmodellen wie etwa Deutschland, dass dieses Sozialmodell erhaltenswert ist.
Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt, von neuen Einwohnern in Deutschland zu fordern, sich dem deutschen Sozialmodell anzupassen, zu dem, wie oben von Oppermann beschrieben, Sprache, Umgangsformen und die Inkorporation von Werten wie Gleichberechtigung, Toleranz und gegenseitigem Vertrauen gehören. Um das hässliche Wort zu verwenden: Ein gewisses Maß an Assimilation ist der Grundstein jeglicher Integration von Mensch in ein funktionierendes Sozialmodell. Nein, das alles bedeutet nicht, Menschen aus anderen Kulturkreisen abzuwerten. Aber es ist durchaus gerechtfertigt, unterschiedliche kulturelle Hintergründe und (durch Sozialisation erworbene!) Werturteile auch unterschiedlich zu bewerten.
Rechte müssen dagegen akzeptieren, dass nicht jegliche Veränderung der Gesellschaft schlecht ist und – um bei dem Begriff zu bleiben – unser Sozialmodell im Diskurs über solche Herausforderungen wie die aktuelle Flüchtlingssituation auch verbessert werden kann.
Entscheidend ist allerdings, dass sie akzeptieren, dass auch eine erfolgreiche „Leitkultur“ allein nicht ausreicht für die Integration – mindestens genauso wichtig ist die sozioökonomische Integration: Werden Flüchtlinge nicht anständig in den deutschen Arbeitsmarkt integriert, scheitert die Integration. Werden Flüchtlinge nur am alleruntersten Ende in den Arbeitsmarkt integriert, scheitert die Integration ebenso. Und sollten negative ökonomische Auswirkungen der Flüchtlinge von Menschen am unteren Rand der Einkommensverteilung getragen werden müssen, wird das die soziokulturelle Spaltung der deutschen Gesellschaft zwischen den unteren und mittleren Schichten, den zu integrierenden Flüchtlingen und der Oberschicht dramatisch vorantreiben.
Sozialer Ausgleich
Im Zentrum der gelingenden Integration aller Teile der deutschen Gesellschaft steht also eine Einkommens-, Vermögens- und Chancenverteilung, die von allen Gruppen als angemessen betrachtet wird. Die Folgen einer Missachtung dieser Erkenntnis lassen sich hervorragend in den französischen Banlieues beobachten. Nur wenn unsere neuen Einwohner in ein paar Jahren ähnliche Chancen und Einkommen haben wie der Rest der Gesellschaft, werden sie sich als Teil dieser Gesellschaft fühlen.
Aber ebenso werden nur dann breite Mehrheiten der einheimischen Gesellschaft ihre freundliche Einstellung behalten, wenn die ökonomischen Belastungen, die die Flüchtlinge eventuell* mit sich bringen, nicht zum Großteil auf die unteren und mittleren Einkommensschichten abgewälzt werden – dazu nicht bereit zu sein, ist nach Jahren der Lohnstagnation und steigenden Einkommen am oberen Ende der Verteilung meiner Meinung nach auch verständlich. Das Ziel der Integration der Flüchtlinge wäre ein hervorragender Anlass, generelle Bemühungen um sozialen Ausgleich durch Bildung und Ausbildung, öffentliche Infrastruktur und gerechtere Lastenverteilung im Steuersystem in Angriff zu nehmen. Ein wichtiger Bestandteil wäre etwa ein groß angelegtes Investitionsprogramm für bezahlbaren Wohnraum, der sowohl Flüchtlingen als auch Einheimischen zugute käme.
Die Integration der Flüchtlinge ist machbar
Insgesamt bin ich der festen Überzeugung, dass Deutschland ohne große Probleme fähig ist, fünf bis zehn Millionen Flüchtlinge über die nächsten fünf Jahre oder mehr zu integrieren. Dafür ist es allerdings notwendig einzusehen, dass Integration eine gewisse Annäherung der Flüchtlinge an Sprache, Recht, Umgangsformen und Werte in Deutschland voraussetzt. Genauso Voraussetzung für gelingende Integration ist allerdings eine Politik des sozialen Ausgleichs mit großen öffentlichen Investitionen und gerechten Lastenverteilungen.
Fußnote
* Der überwiegende Konsens bisheriger Prognosen und der wissenschaftlichen Literatur zu vergangenen Einwanderungsperioden besteht darin, dass selbst unqualifizierte Einwanderung gesamtwirtschaftlich nur kurzfristig negative Effekte bringt, wenn überhaupt. Langfristig sind positive Effekte zu erwarten, die allerdings ungleich verteilt sind und eher den oberen Einkommensschichten zukommen und die unteren Einkommensschichten nicht signifikant betreffen.
2 KOMMENTARE
Meine Erststimme wird Ihnen nicht viel nutzen, aber die haben sie jetzt wenigstens (übrigens das erste Mal, dass ich SPD wähle). Die Zweitstimme gibts erst, wenn die Russlandfraktion in der SPD der Vergangenheit angehört und so richtig lange dürfte es Gehard ja nicht mehr machen, bei der Lunge und der Leber. Gruß an Martin Schulz, er kann nichts dafür, aber seine Mannschaft in Merkels Kabinet ist nach dem Weggang von Schlesig nun wirklich keine Alternative. Der Bürger wünscht sich ein neues Gesicht statt Merkel, aber vor dem Hintergrund dieser SPD Minister wählt er dann doch liber die Pfarrerstochter. Ich habe übrigens eiin Buch über Merkels Politik geschrieben, das ich vor der Wahl nicht mehr fertig bekomme; vielleicht schicke ich es Ihnen nach der Wahl. … Machen Sie so weiter, Deutschland braucht neue Politiker (den Mut in die SPD einzitreten hätte ich in Ihrem Alter – damals regierte der kleine Spießer aus der Hamburger Baubehörde – nicht gehabt).
Vielen Dank für Ihre Nachricht! Das macht Mut und gibt Kraft für den Wahlkampf-Endspurt – mal schauen, was der bringt :) Nur zu den SPD-Ministern bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, weil ich z. B. Frau Barley oder auch Frau Nahles für sehr fähig halte – insbesondere Frau Nahles hat gerade bei der Rente, mit dem Mindestlohn und anderen Regelungen enorme Fortschritte trotz Widerstands der Union erzielen können.
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