Ein echt sozialdemokratischer Ausweg aus der Hartz-IV-Diskussion
Durch ein gar nicht mal so inhaltsschweres Interview von Jens Spahn wurde vor einigen Wochen ja tatsächlich eine substantielle Diskussion über Hartz IV und Armut ausgelöst. Dafür muss man dem Herrn Spahn fast schon dankbar sein, nachdem meine SPD diese wichtige Debatte leider auch vor dem letzten Bundestagswahlkampf nicht zu führen geschafft hat und heute immer noch versucht, sie abzuwürgen. Das ist insofern höchst verwunderlich, als dass die SPD mit Abstand das stärkste Interesse daran haben sollte, den Kampfbegriff „Hartz IV“ und die dahinterstehenden, von weiten Teilen der Bevölkerung so empfundenen Ungerechtigkeiten endlich loszuwerden. Schon alleine aus Marketing- und Wahlkampf-Sicht muss die SPD alles daran setzen, dass sie nicht mehr in jeder Diskussion über Mängel unseres Sozialsystems sofort und als Erste als „Schuldige“ genannt wird – dafür brauchen wir aber endlich ein Konzept für eine echt soziale und damit sozialdemokratische Grundsicherung.
Die gerechtfertigte Kritik
Das grundlegende Problem besteht darin, dass sehr viele Kritikpunkte an Hartz IV (offiziell: Arbeitslosengeld II), und damit auch an einer sich Reformen verweigernden SPD, völlig richtig sind:
- Sanktionen: Die SPD tut sich schwer mit der Konzeption einer Grundsicherung, weil es ihr nicht gelingt, die Solidarität mit den Ärmsten in der Gesellschaft zusammenzudenken mit der essentiellen Bedeutung der Arbeitswelt sowohl für jeden Einzelnen als auch für die Gesellschaft als ganze. Deshalb, weil jede und jeder sich selbstständig in diese Arbeitswelt zu integrieren habe, gibt es z. B. Sanktionen, wenn man Termine der Arbeitsagentur versäumt oder Arbeitsangebote nicht annimmt – ganz unabhängig davon, was die dahintersteckenden Gründe sind, die zumeist mit „Faulheit“ wenig zu tun haben.
Diese Sanktionen sind aber meines Erachtens einer der größten validen Kritikpunkte: Wie eine Grundsicherung, die durch ihre Konstruktion nicht mehr als das „Existenzminimum“ abdeckt, gekürzt werden kann, bleibt vielen in unserem Land zurecht völlig schleierhaft. Wer Sanktionen für ein gerechtfertigtes Mittel hält, müsste deshalb zuerst einmal über das Existenzminimum hinausgehende Leistungen festlegen, damit man diese Leistungen dann kürzen könnte, ohne in das Existenzminimum einzugreifen. - Höhe der Leistungen: Im Gegenteil dazu ist es im Moment leider so, dass auch die Bestimmung der finanziellen Entsprechung dieses Existenzminimums von der Bundesregierung, an der ja bekannterweise auch die SPD mal wieder beteiligt ist, nicht neutral und fair durchgeführt wird, sondern offensichtlich mit der Absicht, die Leistungen künstlich niedrig ausfallen zu lassen. So wurde nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine transparente Berechnungsweise der Regelsätze fordert, extra die Vergleichsgruppe verkleinert, um zufälligerweise auf die bisher geltende Regelsatz-Höhe zu kommen, anstatt eine faire Bewertung vorzunehmen. Das führt dazu, dass mit den Leistungen zwar das physische Existenzminimum garantiert ist, d. h. es muss niemand verhungern. Was aber nicht garantiert ist, ist das soziokulturelle Existenzminimum, d. h. es ist mit Hartz IV nicht möglich, in angemessenem Ausmaß an der Gesellschaft teilzunehmen, weil das Geld etwa für sporadische Kino- oder Restaurantbesuche oder auch bei für Kinder wichtigen Ausflügen fehlt. Eine anständige Grundsicherung garantiert aber die Teilhabe an der Gesellschaft und nicht nur das nackte Überleben.
- Bürokratie: Durch seine vielen Regelungen, die den Bedarf bis ins Kleinste regeln, damit man ja nicht auch nur einen Euro zu viel an jemanden auszahlt, als sie oder er angeblich benötigt, ist Hartz IV zu einem dieser sprichwörtlichen Bürokratiemonster verkommen. Ein System, das ohne Bescheide von mehr als hundert Seiten auskommt, würde Geld- und Zeit-Ressourcen der Mitarbeiter*innen beim Jobcenter freisetzen – mit denen sie z. B. Bedürftige besser betreuen könnten.
- Transferentzugsrate: Ökonomisch gesehen ist das der größte Konstruktionsfehler des Hartz-IV-Systems: Wenn jemand mehr als 100 € verdient, darf sie oder er nur 20 % (bei höheren Bruttoverdiensten sogar nur 10 %) des Verdienstes behalten – Arbeit lohnt sich also paradoxerweise für Hartz-IV-Bezieher*innen nicht, wenn sie nicht einen Job finden, der ihnen (netto) bedeutend mehr bezahlt als die Höhe der Hartz-IV-Leistungen. Auch Aufstocker, also Erwerbstätige, die aber ein zu geringes Einkommen haben, um ihren Lebensunterhalt allein zu bestreiten, erhalten nur die Differenz zwischen ihrem (durch diverse komplizierte Faktoren „bereinigten“) Einkommen und dem ihrer „Bedarfsgemeinschaft“ zustehenden Regelsatz – dadurch besteht wenig Anreiz, mehr zu arbeiten oder eine besser bezahlte Arbeit zu finden, solange damit nicht ein besonders großer Sprung im Einkommen einhergeht, sodass man überhaupt nicht mehr auf Hartz-IV-Unterstützung angewiesen ist. Gerade Bezieher*innen geringer Einkommen wird also wenig Anlass gegeben, mehr zu arbeiten – entgegen der so gerne vorgetragenen Prämisse, möglichst große Anreize zur Arbeitsaufnahme oder Mehr-Arbeit schaffen zu wollen.
Eine sozialdemokratische und ökonomisch vernünftige Grundsicherung
Was ist angesichts dieser Probleme also zu tun? Ich denke, es ist möglich, ein System zu entwickeln, das dem eigentlichen sozialdemokratischen Anspruch an eine soziale, solidarische Grundsicherung gerecht wird und gleichzeitig ökonomisch sinnvolle Anreize für Arbeit schafft. Ein solches System ließe sich so skizzieren:
- Ein neuer Umgang mit Bedürftigen: Wir müssen endlich das Paradigma ablegen, dass Arbeitslosigkeit in den meisten Fällen selbst verschuldet und durch einfache Willensanstrengung behebar ist – richtig ist vielmehr, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle vor allem psychische oder andere gesundheitliche Einschränkungen oder fehlende Qualifikationen die Arbeitsfindung erschweren, nicht mangelnde Bereitschaft. Ein gutes Grundsicherungssystem versucht, diesen tiefgehenden Problemen durch beständige und kompetente Betreuung entgegenzuwirken; erst in einem zweiten Schritt kann dann eine Vermittlung zur Aufnahme von Arbeit erfolgen. Diese Unterstützung und Vermittlung, die bereits durch die Agenda-Reformen gestärkt werden sollte und teilweise auch im Ergebnis verbessert wurde, sollte endlich tatsächlich in den Vordergrund gestellt werden.
Das geht aber nur, wenn Arbeitssuchende und Jobcenter ein neues Verhältnis eingehen können, in dem die Jobcenter ausschließlich als unterstützende Ansprechpartner dienen und nicht gleichzeitig durch Sanktionsdrohungen bei Fehlverhalten Druck aufbauen. Das Ziel der Jobcenter sollte also weiterhin sein, Arbeitssuchende in möglichst gute Jobs zu bringen – denn gute Erwerbsarbeit integriert Menschen in unsere Gesellschaft und erfüllt –, aber eben als echte Partner statt als potentielle Gegner. - Sanktionen abschaffen: Dieses neue Verhältnis zwischen Bedürftigen und Jobcentern lässt sich relativ simpel herstellen, nämlich indem Sanktionen einfach abgeschafft werden. Ein sozialdemokratisches Konzept einer Grundsicherung sollte zur Grundlage haben, dass jederfrau und -mann in unserer Gesellschaft die finanziellen Mittel für das soziokulturelle Existenzminimum zugestanden werden – unabhängig davon, wie sehr sie oder er sich um eine Arbeitsaufnahme bemüht. Nachdem sich „Faulheit“ niemals objektiv nachweisen lässt, sollte eine soziale Partei im Zweifel immer für die Bedürftigen da sein, anstatt große Teile zu unrecht zu verdächtigen. Nebenbei ließe sich durch die Abschaffung der Sanktionen die Bürokratie erheblich reduzieren.
- Langsam abschmelzende Grundsicherung …: Wenn Arbeit sich wirklich „lohnen“ soll, wenn also ein möglichst hoher Anreiz zur Arbeitsaufnahme geschaffen werden soll, muss das oben beschriebene Problem der immens hohen Transferentzugsrate angegangen werden – indem man sie einfach senkt. Am besten wäre dafür der Umbau der Grundsicherung in eine negative Einkommenssteuer, bei der die Grundsicherung mit zunehmendem Arbeitseinkommen immer weiter abschmilzt, bis sie sich dann mit Erreichen des Einkommenssteuer-Freibetrags von einem Transfer in eine Steuer umkehrt. Somit wäre ein großer Anreiz zur Arbeitsaufnahme gegeben, weil jeder dazuverdiente Euro zu einem großen Teil in der eigenen Tasche landet.
Natürlich besteht dabei die Gefahr, niedrige Löhne zu subventionieren – wie das ja heute bereits bei Aufstockern passiert. Meines Erachtens ist das aber kein Problem der Grundsicherung, sondern der allgemeinen Arbeitsmarkt-, Lohn- und Tarifpolitik – ein höherer Mindestlohn ohne größere Ausnahmen würde etwa helfen. Letztendlich sollte es bei einer sozialdemokratischen Grundsicherung wichtiger sein, dass den einzelnen Niedriglohnbezieher*innen am Schluss mehr Geld bleibt – Maßnahmen zur Bekämpfung des Niedriglohnsektors sind ja so oder so angezeigt.* - … in angemessener Höhe: Die Geisteshaltung, lieber keinen Euro zu viel als einen Euro zu wenig an Menschen auszuzahlen, die am unteren Ende der ökonomischen Skala stehen, halte ich für der Sozialdemokratie unwürdig. Stattdessen sollten sowohl die Höhe als auch die Auszahlungsbedingungen unter der Prämisse stehen, jeder und jedem Bedürftigen mindestens das soziokulturelle Existenzminimum zukommen zu lassen, also Geldleistungen, die eine anständige Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Leben zulassen.
Dazu müsste die Berechnung dieses Existenzminimums auf eine solide soziale Basis gestellt werden: Zum einen hieße das, wieder wie früher die untersten 20 % der Einkommensbezieher*innen als Maßstab für die Berechnung der Leistungen zu nehmen, statt wie derzeit 15 %; zum anderen darf in dieser Gruppe niemand enthalten sein, der eigentlich Anrecht auf staatliche Leistungen hätte, diese aber nicht in Anspruch nimmt – im Moment werden diese Personen nicht herausgerechnet, sodass das Durchschnittseinkommen und damit auch die Ausgaben, nach denen sich die Regelsätze berechnen, niedriger ausfallen, als sie es eigentlich müssten, wenn man nur Haushalte auswählen würde, die tatsächlich nicht als staatlicher Leistungen bedürftig gelten – ein ziemlich fieser Trick, die Leistungen künstlich klein zu rechnen. Außerdem ist es fraglich, ob ein liberaler Staat bestimmte Ausgaben einfach aus dem Bedarf herausnehmen darf, wie er dies derzeit z. B. bei Alkohol und Tabak tut.
Und auch die Bedingungen für den Bezug von Hartz IV sollte man dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden anpassen: Als besonders ungerecht wird der SPD immer noch vorgehalten, dass die Agenda 2010 dafür sorgt, dass jemand, der viele Jahre lang gearbeitet hat und in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, nach einer kurzen Zeit (bis zu 24 Monate) Arbeitslosengeld I genauso viel bekommt wie jemand, der nie in seinem Leben gearbeitet hat. Dies ließe sich z. B. dadurch ausgleichen, dass man die Grenzen für das Schonvermögen (das Vermögen, das man maximal behalten darf, wenn man Leistungen bekommen will) um ein vielfaches höher ansetzt als heute, sodass Arbeitslose, die sich durch ihr früheres Erwerbsleben ein gewisses Vermögen erarbeiten konnten, zwar gleiche monatliche Leistungen beziehen, aber durch ihr höheres Vermögen trotzdem bessergestellt sind.
Mit diesen Eckpunkten wäre die Diskussion um eine echt sozialdemokratische Grundsicherung meines Erachtens schon einige Schritte weiter, aber sicher nicht abgeschlossen: So ist z. B. sehr zweifelhaft, ob die „Bedarfsgemeinschaft“ wirklich ein angemessenes Konzept darstellt, oder ob es nicht Aufgabe des Staates wäre, Abhängigkeiten zu vermeiden und Grundsicherung ausschließlich individuell zu verstehen. Auch die Debatte über eine gesonderte, möglicherweise tatsächlich bedingungslos auszuzahlende Kindergrundsicherung muss geführt werden. Ich hoffe, dass der Erneuerungsprozess der SPD auch dazu führt, dass wir uns als Partei mit dem Thema der Grundsicherung wieder grundlegend auseinandersetzen – ohne ein echt sozialdemokratisches Konzept dazu werden wir auch nicht wieder als echt soziale Partei gewählt werden.
Fußnote
* Tatsächlich nimmt die negative Einkommenssteuer eine Mittelstellung ein zwischen dem aktuellen Hartz-IV-System, in dem quasi kein Anreiz zur Arbeitsaufnahme besteht, weil von jedem dazuverdienten Euro wenig bleibt, und einem bedingungslosen Grundeinkommen, bei dem die Transferentzugsrate gleich 0 ist. Im Gegensatz zum bedingungslosen Grundeinkommen wird aber der Wohlfahrtsverlust, der bei fast allen üblicherweise angewandten Steuern entsteht, begrenzt, weil der Transfer auf diejenigen beschränkt ist, die die Grundsicherung tatsächlich für einen substantiell besseren Lebensstandard benötigen (wohingegen beim bedingungslosen Grundeinkommen auch der Millionär die Leistung erhält).