Ein sozialdemokratischer Zukunftsentwurf
Die SPD befindet sich – mindestens in Bayern, aber angesichts der politischen Dynamik dieser Tage auch bundesweit – in einem Überlebenskampf. Am Donnerstag vor einer Woche wurde ich zum Kreisvorsitzenden der SPD in Freising gewählt, und ich habe in meiner Bewerbungsrede, die ich hier in leicht abgewandelter Form veröffentlichen will, versucht darzulegen, wie wir die SPD wieder auf die Beine stellen können.
Das größte Problem der SPD in der aktuellen Situation ist nicht das Personal, die Kampagnen-Unfähigkeit oder die Groko; das alles sind nur Symptome. Das größte Problem ist, dass wir auf die wichtigsten Fragen unserer Zeit keine guten Antworten geben können. Und deswegen weiß niemand, einschließlich uns SPDlern selbst, wofür die SPD eigentlich steht, also was sie im Großen verändern will.
Was uns fehlt, ist ein Zukunftsentwurf, der zeigt, wie wir uns Deutschland in zehn, zwanzig, dreißig Jahren vorstellen. Eigentlich bringen wir für die Erarbeitung eines solchen Zukunftsentwurfs die besten Voraussetzungen mit, weil wir als Sozialdemokratie ein festes und unglaublich stabiles Werte-Fundament haben: die Freiheit der und des Einzelnen, Solidarität und Gerechtigkeit, aber auch der Glaube an gesellschaftlichen Fortschritt – damit lässt sich eine bessere Gesellschaft bauen, und damit lässt sich auch eine neue SPD bauen!
Gleichzeitig müssen wir uns auch endlich mit den großen Herausforderungen unserer Zeit beschäftigen, nämlich der Digitalisierung und dem Klimawandel. Für diese Herausforderungen verlangen die Bürgerinnen und Bürger zurecht Politikvorschläge, die wir liefern müssen, indem wir sie aus unseren Grundwerten ableiten.
Was heißt das konkret? Ich will das an vier Punkten deutlich machen, die ich für die wichtigsten bei der Aufstellung eines neuen sozialdemokratischen Zukunftsentwurfs halte:
1. Eine neue Sozialpolitik
Eine, wenn nicht die wichtigste Grundkompetenz der SPD war in den mehr als 150 Jahren ihrer Geschichte immer: eine kluge Sozialpolitik. Eine Sozialpolitik, die die gesamte Gesellschaft im Blick hat, auch diejenigen, auf die niemand sonst schaut, und die mithilfe der Gemeinschaft Schicksalsschläge abfedert, die man alleine nicht schultern kann. Das Problem ist: Die SPD hat schon seit gut fünfzehn Jahren keine Vorstellung mehr davon, wie eine gute Sozialpolitik tatsächlich ausschauen sollte!
Deswegen brauchen wir endlich ein Konzept für eine neue, moderne, echt soziale Sozialpolitik – die sich zum Ziel setzt, Abstiegsängste zu nehmen, Armut jeglicher Art zu bekämpfen und Halt in allen erdenklichen Notsituationen zu bieten. Das heißt für mich konkret:
- Wir brauchen eine sichere Rente, die für ein gutes Leben im Alter reicht – die können wir uns leisten, das ist nur eine Frage von Arm und Reich und keine Frage der Generationengerechtigkeit!
- Wir brauchen eine bedingungslose Kindergrundsicherung, damit allen Kindern endlich die gleichen Chancen im Leben zuteil werden.
- Und wir brauchen allgemein eine neue Grundsicherung statt Hartz IV, und zwar ohne Sanktionen und in anständiger Höhe. Es ist ein alarmierendes und erschreckendes Zeichen, dass die Grünen als öko-konservative Partei näher an einem solchen neuen Konzept dran sind als die SPD! Wir müssen das Thema Grundsicherung von Grund auf neu denken, als Absicherungssystem, wenn die Digitalisierung auf die Arbeitswelt durchschlägt und – so kann es ja möglicherweise passieren – zu Arbeitslosigkeit oder zumindest immer mehr schlecht bezahlten Jobs führt. Nein, es muss nicht unbedingt ein bedingungsloses Grundeinkommen sein, Vermögens- und Einkommensverhältnisse sollten ja durchaus berücksichtigt werden, um die Finanzierung im Rahmen zu halten. Aber es macht keinen Sinn, die Verantwortung für Arbeitslosigkeit oder Armut immer der oder dem Einzelnen unterzuschieben, anstatt den Blick auf die großen systemischen Ursachen wie die Automatisierung zu richten, und deswegen ist eine echt sozialdemokratische Grundsicherung eine Grundsicherung ohne Sanktionen und in anständiger Höhe, die eine vollständige Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Hier habe ich schon einmal vor einiger Zeit meine Vorstellungen zu einer sozialdemokratischen Grundsicherung aufgeschrieben.
2. Dem Klimawandel entschieden und sozial entgegentreten
Der zweite entscheidende Punkt eines sozialdemokratischen Politikentwurfs für die heutige Zeit ist für mich der Umgang mit dem Klimawandel. Wir müssen endlich die Bedeutung dieser Herausforderung begreifen, und dass die Dimension des Klimawandels so gigantisch ist, dass wir tatsächlich radikale Maßnahmen brauchen!
Ja, wir müssen aus der Kohle aussteigen, und zwar so schnell wie es möglich ist, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden.
Wir müssen für erneuerbare Energien die gesetzlichen Bedingungen so ändern, dass wir kleine Energiegenossenschaften und Stadtwerke wieder bei der Energiewende unterstützen, anstatt sie ihnen zu erschweren. Und wir müssen vor allem endlich an den Sektor ran, bei dem wir in den letzten dreißig Jahren keinerlei Fortschritt bei den Treibhausgas-Emissionen erreicht haben: Wir brauchen ein Konzept für eine Verkehrswende, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen.
Wir sollten das aber auf jeden Fall anders – meint natürlich: besser ;) – machen als die Grünen, nämlich erstens klüger: Es macht keinen Sinn für den Staat, sich auf bestimmte Technologien festzulegen – ob emissionsfreie E-Autos oder emissionsfreie Brennstoffzellen-Autos fahren ist dem Klima völlig egal! Wir sollten reduzierten CO2-Ausstoß fördern, egal wie diese Reduktion zustande kommt. Außerdem müssen wir zum Beispiel viel mehr in Forschung investieren, in alle möglichen Richtungen, etwa auch dazu, CO2 aus der Luft wieder herauszubekommen – wir brauchen nicht die reine Lehre, sondern pragmatische Lösungen, um die Klimaerwärmung zu begrenzen.
Und wir sollten unsere Klimaschutzpolitik zweitens sozialer gestalten: Wir sollten erneuerbare Energien z. B. beim Strom nicht hauptsächlich über eine Umlage finanzieren, die vor allem ökonomisch Schwächere belastet, weil die anteilsmäßig weit mehr für Strom ausgeben, sondern über Steuern – damit würden die wirtschaftlichen Lasten, die durch den Klimaschutz unweigerlich entstehen, endlich gerecht verteilt.
Außerdem müssen wir als Partei der Arbeit immer ein Auge auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, deren Arbeitsplätze durch den – natürlich trotzdem notwendigen! – Klimaschutz gefährdet sind. Wenn wir also aus der Kohle aussteigen, dann müssen wir die sozialen Auswirkungen dieses Kohleausstiegs abfedern: Die Beschäftigten brauchen eine berufliche Perspektive und finanzielle Unterstützung zur Überbrückung, und für die betroffenen Regionen ist eine aktive Industrie- und Infrastrukturpolitik notwendig, damit dort Neues entstehen kann.
3. Die Digitalisierung positiv gestalten
Der dritte Punkt, bei dem die SPD jetzt gefragt wäre, ist die Digitalisierung.
Da ist es nämlich genauso wie beim Klimawandel: Wir sind die einzige Partei, die die Herausforderungen und Chancen mit den sozialen Auswirkungen zusammen denken kann .
Für mich heißt das: Wir müssen einerseits die Chancen, die sich durch die Digitalisierung bieten, nutzen: Zum Beispiel macht sie es möglich, die Arbeitswelt so flexibel zu gestalten wie von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gewünscht, weil der Großteil der Arbeit prinzipiell von überall getätigt werden kann. Für ländlichere Regionen bedeutet das eine große Chance – und somit auch für Ballungsräume, in denen im Gegenzug der Druck auf dem Wohnungsmarkt abnehmen könnte.
Damit das aber so funktioniert und wir die positiven Seiten der Digitalisierung tatsächlich ausnutzen können, müssen wir endlich die technischen Voraussetzungen schaffen, sprich: Wir brauchen einen massiven Ausbau des Glasfasernetzes und dürfen beim neuen Funkstandard 5G die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, sondern müssen durch politische Vorgaben eine flächendeckende Versorgung sicherstellen.
Gleichzeitig müssen wir aber auf der anderen Seite jetzt schon unsere Politik so ausrichten, dass wir die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung gestalten können – auch wenn wir diese Folgen möglicherweise noch gar nicht sehen oder auch unsicher ist, wie sie genau ausschauen werden: Wenn Robotisierung und künstliche Intelligenz den Menschen Arbeit abnehmen können, dann sollten wir jetzt schon anfangen, Modelle für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zu entwickeln, für Weiterbildung auch im Arbeitsleben und für soziale Sicherungssysteme, die dieser unsteten Arbeitswelt Rechnung tragen.
4. Fortschritt, der bei allen ankommt
Dieser Umgang mit der Digitalisierung – die Chancen nutzen und die Folgen sozial gestalten – ist für mich auch übertragbar auf den Fortschritt in unserer Gesellschaft allgemein. Die SPD ist in ihren starken Zeiten auch immer eine Partei gewesen, die für Fortschritt in der Politik und im Sozialen steht und die den technischen und gesellschaftlichen Fortschritt auch aktiv unterstützt und gutheißt.
Ich bin überzeugt, dass wir dieses Gefühl in der SPD wieder erwecken müssen: Wir müssen wieder begeistert sein vom möglichen Fortschritt, von der Spannung einer sich ändernden Welt, müssen wieder ein positives Bild von der Zukunft bekommen! Weil auch wenn wir vor großen Herausforderungen wie dem Klimawandel stehen, geht’s den Menschen heute auf der Welt so gut wie noch nie zuvor, und es sind alle Voraussetzungen da, dass das nicht nur so bleibt, sondern sich auch weiter zum Besseren entwickelt.
Aber dafür müssen wir diesen Fortschritt auch politisch formen und einrahmen – das heißt wir müssen:
- die technologische Entwicklung als Chance begreifen und in eine humane, soziale Richtung steuern,
- die EU fortschrittlich weiterbringen, mit sozialen Mindeststandards und gerechter Besteuerung für internationale Unternehmen,
- für mehr Menschenrechte, mehr Gleichberechtigung aller Geschlechter und mehr Demokratie statt Ausgrenzung und Abwertung kämpfen,
- und wir sollten uns freuen über die Vielfalt an Lebensverhältnissen in unserer Gesellschaft und immer offen bleiben gegenüber Neuem.
Die Herausforderung für die SPD besteht natürlich darin, diejenigen in unserer Gesellschaft mitzunehmen, die Angst davor haben, dass Veränderung bedeuten könnte, Liebgewonnenes zu verlieren und aufgeben zu müssen. Deshalb muss es für die Sozialdemokratie auch immer darum gehen, positive Errungenschaften zu bewahren. Nicht in allen Regionen und Lebensbereichen haben sich in den letzten Jahrzehnten die Lebensverhältnisse in jeglicher Hinsicht verbessert: Wenn im Dorf der Bäcker schließen muss, die Bank und die Post schon lange weg sind und das nahegelegene Krankenhaus geschlossen wurde, dann ist das eben kein Fortschritt, sondern zeigt das Versagen der Politik, alle in unserer Gesellschaft an Fortschritt teilhaben zu lassen.
Und wenn Einkommen und Vermögen viel zu ungleich verteilt sind, weil der Fortschritt eben nicht bei allen auf dem Konto ankommt, muss die Sozialdemokratie durch kluge Steuer- und Abgabenpolitik dafür sorgen, dass sich das wieder ändert. Nur die SPD kann es schaffen, ein positives Bild von Fortschritt zu entwerfen – weil Fortschritt nur dann echter Fortschritt ist und auch so empfunden wird, wenn er allen Menschen in unserer Gesellschaft – egal ob alt oder jung, Frau oder Mann, gut oder weniger gut ausgebildet – zugute kommt.
Damit die SPD also zu neuer Stärke kommt, muss sie genau auf diesen vier Feldern anfangen, sich neu aufzustellen: Wir brauchen ein Konzept, wie wir das Sanktionsmonster Hartz IV beerdigen können, wir müssen endlich glaubwürdig dafür eintreten, die Klimakatastrophe verhindern zu wollen, wir müssen dafür sorgen, dass die Digitalisierung nicht nur den großen Datenkraken-Konzernen was bringt, sondern allen Menschen – und wir müssen uns selbst wieder davon überzeugen, dass wir mit unserer Politik und gesellschaftlichem und technischem Fortschritt tatsächlich eine bessere Welt erschaffen können.