Bestandsaufnahme SPD und Sondierungen (#nogroko)
Nach langem Überlegen und vielen Diskussionen habe ich mich vor ein paar Tagen entschieden, beim Bundesparteitag morgen in Bonn gegen die Große Koalition zu stimmen. Hier möchte ich kurz darlegen, warum für mich die Kontra-Argumente die – durchaus bedeutsamen – Pro-Argumente überwiegen.
Warum die Groko in dieser Situation nicht die beste Entscheidung ist
Die SPD-Führung hat leider nur einen Teil des Auftrags des letzten Bundesparteitags vom Dezember tatsächlich umgesetzt: Andere Optionen als eine starre, exklusive Koalitionsvereinbarung wurden angeblich von der Union sämtlich abgelehnt – wie hart die SPD auf Alternativen beharrte, ließ sich schon an der Aufmerksamkeit ablesen, die diesen anderen Optionen in den Statements nach der Sondierungs-Einigung gewidmet wurde: gar nicht.
Dabei sitzt die SPD in dieser Frage eigentlich am längeren Hebel: Sie kann dank unseres Grundgesetzes die Union in eine Minderheitsregierung zwingen oder Martin Schulz selbst zum Kanzler wählen lassen – Ulf Buermeyer beschreibt das ganze sehr schön hier. In einer Minderheitsregierung hat die SPD die Möglichkeit, ihre Themen umzusetzen, indem sie mit der Union Kompromisse schließt – genauso, wie in einer Großen Koalition. Und sie kann sich aber gleichzeitig inhaltlich erneuern und ihr Profil schärfen – in ihrer Rolle als stärkste Oppositionspartei, die wir übrigens bei einer Großen Koalition der AfD überlassen würden.
Ich hoffe, dass die SPD nach einem Nein zu einer Großen Koalition ihre Möglichkeiten endlich ausnutzt und entweder die Union in eine Minderheitsregierung zwingt oder selbst eine Minderheitsregierung anführt.
Grundsätzliche Argumente gegen die Groko
Es gibt aber auch sehr starke grundsätzliche Argumente gegen eine erneute Große Koalition. Aus Sicht unserer Demokratie halte ich es für höchst bedenklich, wenn ein großer Teil der Bevölkerung seinen Unwillen mit einer aktuellen Regierung ausdrückt (die Parteien der Großen Koalition haben ja etwa ein Viertel ihrer Wähler verloren), sich das aber nach der Wahl nicht in der neuen Regierung widerspiegelt, es also quasi völlig egal ist, was man wählt, weil zum Schluss sowieso Große Koalition rauskommt. Dies würde meines Erachtens die Erosion des Vertrauens in unser politisches System weiter befördern und der AfD weiteren Zulauf verschaffen.
Ebenso kritisch ist es für die Positionen der Parteien in unserer Demokratie, wenn Große Koalitionen zum Dauerzustand werden: SPD und Union nähern sich immer weiter an und können keine Alleinstellungsmerkmale entwickeln, sodass sich sowohl Wählerinnen rechts von der Mitte von der Union als auch Wählerinnen links von der Mitte von der SPD verabschieden, das Parteiensystem sich weiter aufsplittet und Mehrheitsfindungen jenseits der Großen Koalition noch schwieriger werden – ein Teufelskreis.
Das oft vorgebrachte Argument, die SPD müsse jetzt in eine Regierung, damit sie soziale Themen umsetzen kann, lasse ich so nicht gelten: Die SPD war gerade in der Regierung und hat dort viel umgesetzt, und das Sondierungsergebnis bringt insbesondere im sozialen Bereich sehr wenige Verbesserungen. Im Gegenteil kann aber die SPD jetzt mit einer Minderheitsregierung oder in der Opposition ihr Profil schärfen und somit wieder stärkere Wahlergebnisse einfahren, die sie dann in einer nächsten Regierung tatsächlich in sozialere Politik umsetzen kann.
Warum das Sondierungsergebnis nicht soo schlecht ist
Trotz alledem sollten auch die Argumente nicht untergehen, die für eine Große Koalition sprechen: Das Sondierungsergebnis ist bei weitem nicht so schlecht, wie es in weiten Teilen der Partei dargestellt wird (und woran unsere Parteiführung m. E. großen Anteil hat, siehe weiter unten). Was fehlt, sind die großen Projekte wie der Mindestlohn 2013 oder wie es die Bürgerversicherung hätte sein können. Allerdings ist für mich das Ergebnis zu Europa genauso wie das Einwanderungsgesetz eigentlich ein ähnliches Kaliber – beides würde Deutschland und Europa immens weiterbringen. Dazu kommen sehr viele kleinere Punkte, die aber in der Summe eine starke Verbesserung zum Status Quo darstellen würden: starke Einschränkungen der Rüstungsexporte (z. B. keine mehr an Länder, die im Yemen-Konflikt beteiligt sind, wie Saudi-Arabien oder Katar), Abschaffung Kooperationsverbot für Schulgebäude (da, wo es wichtig ist), Ausbau Glasfaser-Internet, Netzneutralität, Anspruch auf Ganztagsbetreuung, Parität der Krankenversicherungsbeiträge, bessere Förderung von Langzeitarbeitslosen, Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Zinserträge (trifft hauptsächlich das 75-95-Prozent-Quantil, also nicht die „kleinen“ Leute, wie oft behauptet wird), usw. Dafür mussten auch die Kröten der Familiennachzugs-Regelung und der „ANkER“-Aufnahmezentren für Flüchtlinge geschluckt werden – die Obergrenze ist aber entgegen weitläufiger Annahmen in keiner Weise vereinbart worden, das Papier enthält lediglich einige Absätze Geschwurbel über die erwartete Zahl von Flüchtlingen, die aber faktisch bedeutungslos sind und keine Änderungen der Gesetzeslage beinhalten.
Richtige Bauchschmerzen macht mir das Sondierungsergebnis dort, wo es strukturell keine oder absolut unzureichende Antworten gibt – und das sind leider eigentlich die wichtigsten, mit Ausnahme von Europa: Die neue Groko bringt keine neue Finanz- und Investitionspolitik (sprich weiter Verfall unserer Infrastruktur), keine neue Steuer-, Renten- und Tarifpolitik (sprich keine bedeutende Verringerung der Ungleichheit, insbesondere von Vermögen und Erbschaften), keine neue Gesundheitspolitik (deren Probleme auch eine Bürgerversicherung nur zu sehr kleinen Teilen behebt), keine neue Energiewende-Politik (auch wenn die zugesagte Festlegung eines Datums zum Kohleausstieg ein Paradigmenwandel ist und m. E. unterschätzt wird) und nur sehr begrenzte Verbesserungen auf dem Miet- und Wohnungsmarkt. Trotzdem ist das nicht nur Ausdruck der Schwäche dieses Sondierungsergebnisses – das Problem besteht auch in teilweise unzureichenden inhaltlichen Position der SPD insgesamt.
Die Probleme der SPD liegen tiefer
Egal in welcher Regierungsform, die SPD hat bei diesen Punkten nicht so viel beizutragen, wie ich mir wünschen würde. Das ist der Grund, warum die SPD, egal ob in der Regierung oder in der Opposition, eine tiefgreifende inhaltliche Erneuerung und Innovation braucht.
Dass die SPD auch an einer substantiellen Führungsschwäche leidet, zeigen m. E. zwei Dinge in Zusammenhang mit der Sondierung sehr gut: Wir haben keinen besonderen Willen und auch keine besondere Strategie zur weitestmöglichen Umsetzung unserer Politik – sonst hätten wir unsere starke Verhandlungsposition besser genutzt (die SPD hat Merkels Schicksal als Kanzlerin in der Hand) und strategisch auf eine Minderheitsregierung hingewirkt.
Unsere Führung hat es gleichzeitig aber auch völlig vergeigt, den Sondierungsergebnissen ihren eigenen Spin mitzugeben. Das hat schon damit angefangen, die Bürgerversicherung vor den Verhandlungen zum großen Thema zu erklären, obwohl klar war, dass die Union gerade auf diesem Feld keine so weitgehenden Zugeständnisse machen wird. Das Ergebnis der Verhandlungen wurde dann als hervorragender Erfolg verkauft, wo man der Glaubwürdigkeit zuträglicher auch hätte sagen können, wir haben so hart verhandelt wie es ging, ohne die Sondierungen verlassen zu müssen, mehr war mit der Union nicht zu machen, jetzt können wir gemeinsam entscheiden, ob das reicht. Auch welche Punkte als Erfolg verkauft wurden, ist für mich völlig unverständlich – die Haltelinie bei den Renten, die schlicht dem Status Quo entspricht und keinerlei Verbesserung darstellt? Die Parität der Krankenversicherung, die zwar eine Verbesserung ist, aber deren Abschaffung von der SPD mitverantwortet wurde? Damit gewinnt man bei der Basis keinen Blumentopf.
Man hätte stattdessen auch versuchen können, v. a. das Europa-Kapital als großen Beitrag der SPD zur nächsten Regierung zu feiern und das als Zeichen eines pro-europäischen Aufbruchs Deutschlands zu verkaufen – aber schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres schafft es die SPD nicht, Europa in den Vordergrund zustellen, obwohl sie durch Martin Schulz an der Spitze genau bei diesem Thema ein Alleinstellungsmerkmal hat. Man hätte auch das Einwanderungsgesetz, das außer der Union alle (relevanten) Parteien fordern und die SPD jetzt endlich einführen könnte, herausstellen können oder die starken Einschränkungen der Rüstungsexporte … Wenn die SPD sich morgen oder bei einem Mitgliedsentscheid gegen eine Große Koalition ausspricht, hat sich das die Parteiführung auch selbst zuzuschreiben.